Serie Gen Z und ihre Eltern: „Jugendliche haben ein Recht darauf, dabei zu sein“ (Medienpädagogin Lidia de Reese)

Fotos: Rawpixel McKinsey und Minty | Royalty Free Photo | Montage | Ausschnitt bearbeitet
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Veröffentlicht am 26.08.2022

In unserer Serie „Gen Z und ihre Eltern“ erkunden wir die Vorteile und Nachteile von Social Media für Jugendliche, was Plattformen und Gesetzgeber gegen Gefahren tun und vor allem: Wie sich die Eltern der Generation TikTok verhalten sollten. Darüber sprechen wir mit der Medienpädagogin Lidia de Reese (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Dienstanbieter).

Die FSM ist eine von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) anerkannte Selbstkontrolleinrichtung für den Bereich Telemedien. Der Verein setzt sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche mit einem sicheren und besseren Internet aufwachsen können – insbesondere über die Bekämpfung illegaler, jugendgefährdender und entwicklungsbeeinträchtigender Inhalte in Online-Medien.

Logo: FSM

Medienpädagogin Lidia Reese hat das Projekt Elternguide.online in Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen mitkonzipiert. Der Elternguide bietet Hilfe für die Medienerziehung in der Familie und soll Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder bei der Nutzung von Apps, Spielen, Websites und sozialen Netzwerken zu begleiten.

Frau de Reese, wenn wir über Social Media nachdenken, denken wir oft an Radikalisierung, an Einsamkeit, an Datenmissbrauch oder Cybergrooming. Sind Soziale Medien wirklich so schlecht wie ihr Ruf?

Foto: Lidia de Reese | Screenshot young+restless Breakfastclub am 18.08.2020

Kurz gesagt: nein. Ich arbeite bei einem Verein, der sich um Jugendschutz im Internet kümmert, also haben wir eigentlich sehr viel diese Risikobrille auf und es geht natürlich viel ums Schützen. Aber gerade aus medienpädagogischer Sicht geht es nicht nur darum, sondern auch um Teilhabe.

Was heißt das?

Überall, wo Menschen miteinander kommunizieren, gibt es Risiken. Aber auch Chancen, sich zu entfalten, Dinge zu erfahren, mit Menschen aus aller Welt zu interagieren. Auch gerade für Jugendliche ist das relevant: sich zu finden und auch kreativ sein können, selber relativ simpel mit Apps, Filtern und Tools kleine Medienprodukte zu kreieren. Und diese der Welt zeigen zu können. Das ist den meisten Jugendlichen wichtig. Das ist eine riesige Chance. Jugendliche haben ein Recht darauf, dabei zu sein und es geht eben um das „Wie“. Was können wir tun, die Jugendlichen, die Plattformen, die Gesellschaft, damit das „Wie“ möglichst positiv ist?

Und wie können Eltern das schaffen? Das klingt nach einem Spagat. Einerseits die positiven Effekte von Sozialen Medien zuzulassen, andererseits Gefahren abzuwenden.

Es gibt ja bei relativ vielen Erziehungsfragen einen Spagat. Wenn es um Ernährung geht, um Sport und Bewegung – man hat so viele Themen, die Familie und Eltern umtreiben. Ich glaube, dass das viele Familien gut schaffen. Aber dass sich trotzdem viele auch überfordert fühlen. Oder – und das ist für mich als Medienpädagogin die schwierigere Gruppe – die Eltern und Familien, denen vieles vielleicht gar nicht bewusst ist, die gar nicht wissen, was ihre Kinder und Jugendlichen da tun. Ich glaube, die Eltern, die es gut schaffen, sind nicht unbedingt die, die jede App kennen oder jedes Game, die in allen Netzwerken sind und sich aller Risikophänomene schon bewusst sind.

„Erfolgreich sind die Eltern, die nah dran sind an ihren Kindern oder Jugendlichen, die im Dialog bleiben, die eine Offenheit und Interesse zeigen.“

Wo sehen Sie die größten Gefahren? Wovor müssen Jugendliche vor allem geschützt werden?

Wir können über Inhalte reden, also alles, womit sie konfrontiert werden. Drastische, schlimme Bilder von Geschehnissen, Gewalt. Kriegsberichterstattung ist immer ein sehr gutes Beispiel, warum Kinder über sichere Startrampen ins Internet gehen sollten. Das sind wichtige Berichterstattungen, aber jüngere Kinder werden stark verängstigt, wenn beispielsweise andere Kinder in Opferrollen gezeigt werden.

Aber es kommt natürlich auch Desinformation dazu, Verschwörungspropaganda, all diese Geschichten. Davor müssen sie geschützt werden. Aber auch vieles, was mit Interaktionen zu tun hat. Wir nennen das Interaktionsrisiken. Eine der größten Gefahren ist dabei sexuelle Ausbeutung und sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Aber auch Cybermobbing, schwieriges Feedback auf den Körper oder auf das Aussehen. Dazu kommen Verharmlosungen von Essstörungen, Fitness-Wahn und ähnliches.

Foto: CC0 1.0, Pixabay User HaticeEROL | Ausschnitt angepasst

Und bei Social Media sollten wir immer auch über Challenges reden. Es gibt viele lustige Pranks, Aufgaben, Challenges, die einen guten Zweck haben, einfach nur Spaß machen. Aber es kann auch ganz schnell in Richtungen gehen, wo die Kinder und Jugendlichen gar nicht ahnen, dass es gefährlich sein kann. Zum Beispiel das Schlucken von Waschmittelkapseln oder große Mengen von Zimt. Das kann lebensbedrohlich werden.

Jetzt habe ich eine ganze Bandbreite aufgezählt, aber mir ist auch wichtig, hier wieder die Balance zwischen positiv und negativ zu halten. Ich kann schützen, aber vor allen Dingen will ich auch befähigen, ermöglichen, aufzeigen. Das geht Hand in Hand.

Als FSM arbeiten Sie direkt mit den Plattformen zusammen. Sind deren Bemühungen um einen besseren Schutz für Jugendliche, zum Beispiel durch Leitfäden für Eltern oder bestimmte Einstellungsmöglichkeiten in den Netzwerken, wirklich hilfreich oder doch eher Werbemaßnahmen?

Ich würde nicht sagen, der Job ist bei allen Social Media Plattformen schon beendet. Aber es ist wichtig, dass in den letzten Jahren unterschiedlichste Features angeboten wurden. Man ist schon viele Schritte gegangen von „Profil: privat oder öffentlich?“ Das war fast alles, was man früher machen konnte. Inzwischen kann ich zum Beispiel bestimmte Trigger-Wörter festlegen, die in den Kommentaren nicht erscheinen können. Man kann auch genauer einstellen, wer bestimmte Inhalte sieht. Ich glaube, das größere Problem ist, dass diese Features noch zu wenige kennen und nutzen.

Leitfäden für Eltern sind da eine gute Sache, aber ich glaube auch, dass Influencer:innen, die bei den Jugendlichen einfach ein großes Vertrauen genießen, viel bewirken können. Das nutzen auch einige Plattformen mittlerweile.

Die FSM ist eine NetzDG-anerkannte Selbstkontrolleinrichtung. Würden Sie sagen, das Selbst-Kontroll-System funktioniert gut? Ist das NetzDG als gesetzliche Regulierung ausreichend?

Aktuell können Google und Meta Fälle, die nicht eindeutig rechtswidrig und nur schwer juristisch zu bewerten sind, an die FSM als staatlich anerkannte Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung übertragen. Der NetzDG-Prüfausschuss, ein Expertengremium aus Juristinnen und Juristen, entscheidet dann unabhängig von den Plattformen und der FSM über die Fälle. Auf diesem Weg haben wir in den letzten Jahren viele Entscheidungen beisteuern können, die oft aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten widerspiegeln.

Foto: CC0 1.0, Pixabay User geralt | Ausschnitt angepasst

Für den medienpädagogischen Bereich in der direkten Arbeit mit Eltern, Lehrkräften und auch Jugendlichen muss ich sagen, dass wenige das Gesetz und seine Auswirkungen kennen. Was eine wichtige Rolle spielt, und das ist für mich als Medienpädagogin wichtig: Dass alle, Kinder und Jugendliche, aber auch die Erwachsenen verstehen, dass Gesetze im Internet genauso gelten.

Wir alle, als einzelne User, ob Eltern oder nicht, haben die Verantwortung, strafbare Inhalte zu melden und das Gesetz auszuschöpfen. Die FSM zum Beispiel hat eine unabhängige Beschwerdestelle. Auch wenn man das Gefühl hat: “Ich habe das doch jetzt schon gemeldet, irgendwie dauert mir das zu lang. Machen die jetzt wirklich etwas?”, kann man immer noch den Weg über eine Beschwerdestelle gehen.

Es ist auch mittlerweile auf den Plattformen so, dass ich relativ simpel einen Inhalt an Ort und Stelle melden kann. Aber den Zielgruppen, mit denen ich arbeite, ist gar nicht unbedingt so bewusst, dass Dinge nicht erlaubt sind und man diesen Schritt gehen sollte.

Geht die Bundesrepublik eigentlich anders mit Gefahren im Netz um als andere Länder?

Wenn man in das europäische oder internationale Ausland geht, ist es extrem schwierig, zu erklären, wie das hier funktioniert. Es gibt das Jugendschutzgesetz auf Bundesebene, wir haben den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag auf Länderebene. Und dann reden wir über 16 Bundesländer und ihre 14 Landesmedienanstalten, und so wird es kompliziert.

Erhebungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland weniger Risikoerfahrungen machen, aber ihnen oft auch weniger erlaubt wird. Sie sind also etwas behüteter, Eltern vorsichtiger als in anderen Ländern. Dadurch entwickeln sie auch manchmal langsamer digitale Kompetenzen.

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Auf der anderen Seite hat Deutschland eine riesige Kinderseitenlandschaft, eine großartige Vielfalt an digitalen Angeboten nur für diese Zielgruppe. Das ist im europäischen Vergleich wirklich fast einzigartig. Im Vereinigten Königreich gibt es tolle Inhalte, in den Niederlanden gibt es auch viele, aber eine so große Diversität von öffentlich-rechtlichen, kommerziellen, NGOs, Vereinen, privat engagierten Menschen oder Verlagen, die hier Content für sehr junge Kinder bereitstellen, ist vielleicht einmalig.

Vielen Dank für das Interview, Frau de Reese!

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