Digitale Gesellschaft: Interview mit Lena-Sophie Müller (Initiative D21 e.V.)

Foto: Lena Sophie Müller, Geschäftsführerin bei Initiative D21 e.V. | ©2020 tokography/Tobias Koch
Foto: Lena Sophie Müller, Geschäftsführerin bei Initiative D21 e.V. | ©2020 tokography/Tobias Koch
Veröffentlicht am 09.03.2023

Seit nunmehr zehn Jahren legt der gemeinnützige Verein „Initiative D21 e.V.“ ein jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft in Deutschland vor. Ende Februar war es wieder soweit und die neue Ausgabe wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Anlässlich des Jubiläums haben wir mit der Geschäftsführerin der Initiative Lena-Sophie Müller über die zentralen Erkenntnisse im aktuellen Index und künftige Herausforderungen der Digitalisierung gesprochen.

Frau Müller, was sind die Top 3 Erkenntnisse, die Sie beim neuen D21-Digital-Index positiv oder negativ überrascht haben?

Es ist gar nicht so einfach, sich bei der Vielzahl der spannenden Ergebnisse auf drei besonders überraschende Erkenntnisse der Studie zu beschränken. Bemerkenswert finde ich als Erstes, dass wir im D21-Digital-Index einen sogenannten Vogel-Strauß-Effekt im Themenfeld der Digitalen Wertschöpfung identifiziert haben. Die große Mehrheit der Berufstätigen ist sich zwar der Veränderungen in der Arbeitswelt bewusst, aber nur wenige sehen Auswirkungen auf das eigene Berufsleben: Während 80 Prozent davon ausgehen, dass bis 2035 ganze Berufe verschwinden könnten, glauben nur 19 Prozent, dass sie selbst davon betroffen sein könnten.

Grafik: Initiative D21 e.V.

Ich finde, dieses Ergebnis sollte die Politik und alle Arbeitgeber*innen deutlich aufhorchen lassen. Die Beschäftigungsfähigkeit derjenigen, die sich nicht auf die neuen Anforderungen in der Arbeitswelt einstellen können, ist bedroht – und damit perspektivisch auch die digitale Wertschöpfung und der Wohlstand unserer Gesellschaft. Ich bin aber auch überzeugt, dass die Wirtschaft hier innovative Handlungsoptionen entwickeln wird, um ihre Mitarbeiter*innen im digitalen Wandel aktiver zu unterstützen. Das Schöne am D21-Digital-Index ist, dass wir auf solche Herausforderungen aufmerksam machen und Handlungsoptionen aufzeigen können. Die Expert*innen-Interviews in der Studie erläutern zum Beispiel, wie hierarchie- und bereichsübergreifende Projekte die positiven Aspekte des digitalen Arbeitswandels für die Mitarbeitenden erlebbar machen können.

Mein zweites Highlight: In der Studie haben wir uns erstmalig dem Thema Resilienz im digitalen Wandel gewidmet, also der Frage: Verfügen die Menschen in Deutschland über wichtige Faktoren, die ihnen dabei helfen, sich an die stetigen Veränderungsprozesse durch die Digitalisierung anzupassen? Erfreulicherweise haben wir festgestellt, dass fast 2 von 3 Bürger*innen diese Resilienzfaktoren aufweisen und somit für den digitalen Wandel gewappnet sind.

Spannend ist hier, dass wir mit einigen Schubladen in unseren Köpfen aufräumen müssen: Es sind beispielsweise nicht per se junge Menschen oder Menschen im Berufsleben, die auch resilient im digitalen Wandel sind – obwohl das Gruppen sind, die einen hohen Digitalisierungsgrad aufweisen. Resilienz im digitalen Wandel verteilt sich über alle Altersklassen. 

Grafik: Initiative D21 e.V.

Wir sehen also, dass die klassischen Muster, die für die digitale Spaltung in Deutschland weiterhin gelten, bei Resilienz nicht gleichermaßen zutreffen. Warum ist das so? Für die Resilienz im digitalen Wandel spielen die Lebensumstände eine weniger große Rolle als für den Digitalisierungsgrad, dafür fällt die Herangehensweise an die Digitalisierung schwerer ins Gewicht: Wie optimistisch sehe ich die Auswirkungen der Digitalisierung auf mich selbst? Wie lösungsorientiert gehe ich mit den Herausforderungen des digitalen Wandels um? Zukunftsforscher Sven Gabór Jánzsky hat auf unserem Fachkongress sehr gut auf den Punkt gebracht, worauf es ankommt:

„Vertrauen Sie den Möglichkeiten der Zukunft mehr als Ihren Erfahrungen in der Vergangenheit.“

Die Menschen müssen also die Gelegenheit bekommen, zu sehen und zu spüren, wie sie vom digitalen Wandel profitieren können – diese Chancen sichtbar zu machen, ist unser aller Aufgabe.

Und ein drittes aus meiner Sicht wichtiges Ergebnis des D21-Digital-Index ist, dass die Mehrheit der Menschen in der Digitalisierung angekommen ist – sie gehören zur Digitalen Mitte oder gar zu den Digitalen Profis und sind durchaus digital affin. Das wird allerdings dadurch getrübt, dass es nach wie vor sehr deutliche digitale Spaltungen zwischen den Bevölkerungsgruppen gibt. Ich finde es daher sehr gut, dass das erklärte Ziel der Digitalstrategie der Bundesregierung unter Federführung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) ist, die Digitalisierung so zu gestalten, dass alle Menschen von ihr profitieren können – denn das tun derzeit längst nicht alle und deswegen ist dieses Ziel so wichtig.

Um das Gelingen der Strategie zu unterstützen, hat die Initiative D21 ein digitalpolitisches Monitoring ausgewählter gesellschaftlich relevanter Ziele der Digitalstrategie auf Basis der Daten des D21-Digital-Index gestartet. Mit dem Monitoring können wir jährlich für unterschiedliche Gruppen Fortschritte aufzeigen und so auf Verbesserungspotenziale hinweisen, damit digitalpolitische Maßnahmen in den kommenden Jahren gezielt nachgesteuert werden können und so die digitale Spaltung verringert wird.

Grafik: Initiative D21 e.V.

Andere hätten vielleicht andere Schwerpunkte gewählt, zum Beispiel aus dem Bereich der Nachhaltigkeit & Digitalisierung oder zu Desinformationen im Netz oder zu den unterschiedlichen Personas der digitalen Gesellschaft. Die Basecamp-Community ist sehr aktiv und hat mir schon an vielen Stellen neue Impulse geliefert – daher bin ich auf Feedback gespannt.

Seit 2013 untersucht die Initiative D21 mit dem Digital-Index und weiteren Studien, wie die deutsche Gesellschaft mit dem digitalen Wandel Schritt hält. Welche Veränderungen und Kontinuitäten lassen sich für die vergangenen zehn Jahre konstatieren?

Eine schöne Erkenntnis der Studiengeschichte ist der Anteil der Onliner*innen in unserer Gesellschaft. Als unsere Erhebungen zu diesem Thema 2001 starteten – damals noch unter dem Namen Verweigerer- und später (N)Onliner-Atlas –, lag der Anteil der Onliner*innen noch bei unter 40 Prozent. Jetzt sind wir bei 93 Prozent – Tendenz steigend. Viele erschließen sich den digitalen Raum übrigens über die mobile Internetnutzung: Technologie und Infrastruktur ermöglichen hier also Zugang.

Foto: Tobias Koch

Ähnliches lässt sich auch bei älteren Menschen und ihrer Teilhabe an der Digitalisierung beobachten: Immer mehr ältere Menschen interessieren sich für die digitale Welt und erschließen sie sich vor allem über mobile Geräte. Auch die digitalen Kompetenzen in der Bevölkerung sind in den letzten zehn Jahren insgesamt gestiegen – leider aber nicht in allen Bevölkerungsgruppen im gleichen Tempo. Ich empfehle Politik und Wirtschaft den lebensbegleitenden Aufbau von Kompetenzen stärker zu fördern – die Studie zeigt sehr gut auf, wo es Defizite gibt. Deswegen ist das auch einer der Aspekte, die wir ins digitalpolitische Monitoring aufgenommen haben, denn es sind vor allem vulnerable Gruppen, die Unterstützung brauchen.

Interessant ist auch folgende Beobachtung: Obwohl die Menschen tendenziell immer digitaler geworden sind, ist die positive Einstellung – die Offenheit und Akzeptanz gegenüber den Veränderungen des digitalen Wandels – aber nicht in gleichem Maße mitgewachsen. Überraschenderweise zeigt sich dieser Kontrast vor allem bei den digital Affinen: Diese wollen immer häufiger bewusst Zeit offline verbringen und empfinden einen ständigen Anpassungsdruck an den digitalen Wandel. Aus unserer Sicht ist es jetzt wichtig, Strategien für eine resilientere Haltung zu entwickeln, die einer digitalen Übersättigung insbesondere der digitalaffinen Gruppen vorbeugen.

Der digitale Wandel bringt also immer neue Entwicklungen hervor, die wir über die Jahre in unsere Studie aufgenommen haben, zum Beispiel die Wechselwirkungen von Digitalisierung und ökologischer Nachhaltigkeit. Diese „Twin Transition“ wird jetzt und in Zukunft eine wichtige und herausfordernde Rolle für die Gesellschaft spielen, genauso wie auch der Effekt von Desinformationen im Internet auf die demokratische Debattenkultur. Das sind nur zwei Beispiele, bei denen man vor 20 Jahren bei der Erstauflage unserer Gesellschaftsstudie oder auch vor 10 Jahren bei der Neukonzeption als D21-Digital-Index nur schwerlich absehen konnte, dass sie im Bereich der Digitalisierung heute diese hohe Relevanz bekommen würden.

Was ist aus Ihrer Sicht nötig, damit Deutschland noch größere Fortschritte bei der Digitalisierung machen kann? Wo liegen die größten Baustellen und was kann speziell die Politik zu deren Behebung beitragen?

Wenn es um die Umsetzung digitalpolitischer Maßnahmen und Projekte geht, formulieren Politik und staatliche Institutionen ein klares Ziel: die digitale Transformation ganzheitlich zu gestalten. Die Bundesregierung hat hierzu in ihrer Digitalstrategie wichtige Ziele formuliert, die man bis 2025 erreichen will. Bei der Umsetzung bleibt es leider oft bei Einzelmaßnahmen und Leuchtturmprojekten. Um die Digitale Gesellschaft voranzubringen, muss es gelingen, ganze Ökosysteme zu transformieren.

Die Digitalisierung wirkt sich so umfassend auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus, dass wir ein ganzes Orchester ineinandergreifender Maßnahmen brauchen, damit mehr Menschen von der Digitalisierung profitieren können. Ressortzuständigkeiten und Verantwortlichkeiten über föderale Ebenen hinweg erschweren dies und die Strukturen fördern eher das Solo als das Orchester. Der Erfolg hängt also einerseits von einer guten strategischen Steuerung ab, damit alle Instrumente des Orchesters gut harmonieren. Andererseits sind alle Akteure gefordert, als Team Deutschland gemeinsam an den Zielen zu arbeiten.

Foto: iStock / Drazen Zigic

Die Verantwortung für eine so umfassende Aufgabe wie die Gestaltung des digitalen Wandels kann übrigens nicht allein bei der Politik liegen. Wir brauchen hier das Zusammenspiel vieler Akteur*innen. Ein wichtiger Baustein für das Gelingen von gesellschaftlicher Veränderung war und ist die Zivilgesellschaft, die Zielgruppen sehr genau erfassen kann. Um nur einige Initiativen stellvertretend für alle anderen zu nennen: In der Hacker School bieten Zivilgesellschaft und Wirtschaft gemeinsam Coding-Workshops für Kinder an. Die ReDi School of Digital Integration stellt Migrant*innen und anderen marginalisierten Gruppen kostenlosen Zugang zu digitaler Bildung zur Verfügung. Projekte wie Wege aus der Einsamkeit oder Silbernetz setzen sich für die Stärkung der Resilienz älterer Menschen im digitalen Wandel ein. Wir sehen: Die Zivilgesellschaft ist vielfältig und stark.

Und auch wir als Initiative D21 sehen uns in der Verantwortung, mit Lagebildern, Arbeitsgruppen und dem Austausch in unserem Netzwerk frühzeitig auf Trends hinzuweisen. Die Zivilgesellschaft ist aber auch auf die Unterstützung von Politik und Wirtschaft angewiesen, zum Beispiel durch Fördermittel oder Spenden. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und die breite Förderung aus der Wirtschaft sowie unserer vielschichtigen Mitgliederstruktur nachhaltige Unterstützung unserer Tätigkeiten erfahren.

Wie werden die Ergebnisse des D21-Digital-Index Ihrer Meinung nach in fünf Jahren aussehen? Werden wir dann von einer verbesserten Situation beim digitalen Wandel sprechen können oder befürchten Sie, dass sich nicht viel ändern wird? 

Wenn es so weitergeht wie bisher, könnten bis 2026 fast alle Menschen in Deutschland online sein. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass die Menschen auch vom digitalen Wandel profitieren. Gerade in der jüngeren Vergangenheit haben wir wieder gesehen, wie schnell und häufig Veränderungen stattfinden, die die Menschen im digitalen Wandel immer wieder vor neue Herausforderungen stellen und neue Möglichkeitsräume eröffnen. Dass jetzt alle Onliner*innen durch ChatGPT, DALL-E & Co Zugang zu generativer KI haben, braucht neue Anpassungsfähigkeiten. Und das ist nur ein Beispiel für viele rasante Entwicklungen.

Ich wage daher kaum eine Prognose, wie das nächste Jahr, geschweige denn die nächsten fünf Jahre im Bereich der Digitalisierung aussehen werden. Persönlich sehe ich aber sehr viele Chancen und Raum für viel Optimismus. Wichtig ist, alle Entwicklungen genau zu beobachten, um Chancen frühzeitig zu nutzen und auch Herausforderungen zu erkennen.

Die Stärkung digitaler Kompetenzen als gute Basis und die Förderung von Resilienz sowie einer positiven Einstellung gegenüber den anstehenden Veränderungen können den Menschen helfen, gestärkt durch den digitalen Wandel zu gehen.

Das Positive aus Sicht der Initiative D21 ist, dass alle Akteur*innen gemeinsam dazu beitragen können, jeden Tag und bei jeder Aktivität.

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