Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Rita Schwarzelühr-Sutter

Pressefoto: Rita Schwarzelühr-Sutter | © Susie Knoll | CC BY-SA 3.0 DE | Ausschnitt bearbeitet
Pressefoto: Rita Schwarzelühr-Sutter | © Susie Knoll CC BY-SA 3.0 DE | Ausschnitt bearbeitet
Veröffentlicht am 01.04.2022

Die Gefahren von Desinformation und Radikalisierung im Internet gelten seit längerem als eine große gesellschaftliche Herausforderung. In unserer Interview-Reihe möchten wir das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und befragen dazu in kurzer Form Personen aus relevanten Bereichen, wie sie diese Herausforderung einschätzen und was getan werden kann, um sie zu meistern. Zum Auftakt haben wir mit Rita Schwarzelühr-Sutter MdB gesprochen, die seit Dezember 2021 als Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesinnenministerin tätig ist.

Frau Schwarzelühr-Sutter, die Radikalisierung auf Social Media-Kanälen und Messenger-Plattformen wurde mittlerweile als relevantes gesellschaftliches Problem erkannt. Doch wo fängt die Radikalisierung aus Ihrer Sicht eigentlich an? Sind digitale Plattformen ein Spiegel bereits bestehender Meinungen oder führen sie überhaupt erst dazu, dass sich Menschen vernetzen und radikalisieren?

Radikalisierungsprozesse sind komplex und verlaufen immer individuell. Die Frage ist insofern nicht leicht zu beantworten. Vielleicht so viel: Als radikalisiert würde ich einen Menschen bezeichnen, der sich zu extremistischen Positionen bekennt, also solchen, die den Werten und Überzeugungen unserer Gesellschaft diametral entgegenstehen.

Digitale Plattformen können in Radikalisierungsprozessen eine Rolle spielen – auch eine bedeutende Rolle. Allerdings gab es Radikalisierung schon lange vor dem Internet. Und noch immer spielen reale Treffen im persönlichen Umfeld – mit Einflüsterern, Demagogen und Rekruteuren – eine zentrale Rolle in vielen Radikalisierungsprozessen. Wir müssen aber klar sagen, dass Extremisten über digitale Plattformen Menschen viel schneller, unkomplizierter und gezielter erreichen können. Auch die enger werdende internationale Vernetzung von extremistischen Gruppierungen beobachten wir mit Sorge. Insofern würde ich nicht sagen, dass digitale Plattformen selbst zu Radikalisierung führen; sie werden aber von Extremisten missbraucht und können als Katalysator für Radikalisierungsprozesse wirken.

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Dabei ist die Entstehung sehr abgeschotteter Kommunikationsräume, in denen nur Gleichgesinnte sich begegnen, von besonderer Relevanz. Zudem gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass insbesondere soziale Netzwerke emotionale Interaktion algorithmisch belohnen und fördern. Emotionale Inhalte erfahren also eine höhere Verbreitung als sachlich orientierte Informationen. Deutlich erkennbar ist auch, dass digitale Räume zu einer enthemmten Kommunikation führen können und ein regelrechter Überbietungswettbewerb in Grenzüberschreitung entstehen kann. 

Digitalen Plattformen kommt so insbesondere im Kontext von rechtsextremer Ideologie, menschenfeindlicher Einstellungen und antisemitischer Verschwörungsideologien eine elementare Bedeutung zu. Hier sind sie weniger ein Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Einstellungsebenen, als ihnen vielmehr eine Funktion zukommt, die mit einem verzerrten Verstärker zu vergleichen ist. Rechtsextremes Gedankengut wird immer mehr toleriert, wo andere sich bereits ähnlich geäußert haben.

Was kann die Bundesregierung tun, um gesellschaftlicher Radikalisierung und Enthemmung zu begegnen?

Ich glaube nicht, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt radikalisieren. Doch es gibt eine kleine, aber bisweilen sehr laute Minderheit, die sich radikalisiert und enthemmt. Dem müssen wir uns als demokratische, offene Mehrheitsgesellschaft entschlossen entgegenstellen.

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Die Bundesregierung verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz: Wir müssen Gefahren für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung so früh wie möglich erkennen – hier denke ich in erster Linie an den Verfassungsschutz. Wir müssen Straftaten auf der Straße wie im Netz konsequent verfolgen. Hass und Hetze im Internet müssen so schnell wie möglich gelöscht werden. Vor allem aber brauchen wir einen breiten präventiven Ansatz. Die Bundesregierung engagiert sich schon jetzt auf vielfältige Weise intensiv dafür, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, politische Bildung zu fördern und Menschen zu unterstützen, die demokratische Kultur vor Ort gestalten. Ich möchte hier vor allem auf die die Bundesprogramme „Demokratie leben!“ oder „Zusammenhalt durch Teilhabe“ verweisen. Unser Engagement werden wir im Laufe dieser Legislaturperiode noch ausweiten. So hat vor kurzem der Beratungsprozess für das Demokratiefördergesetz begonnen.

Darüber hinaus hat Frau Ministerin Faeser vor kurzem einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vorgestellt. Dieser wird erste wichtige Schwerpunkte setzen und ein effektives Bündel kurzfristiger repressiver und präventiver Maßnahmen umfassen. Als zweiten Schritt werden wir nicht nur die Umsetzung der Maßnahmen des Kabinettausschusses weiterführen, sondern auch – wo nötig – eine Anpassung und Weiterentwicklung der Maßnahmen voranbringen. Beide Schritte sind elementarer Bestandteil der Entwicklung einer ressortübergreifenden Gesamtstrategie zur Bekämpfung jeder Form des Extremismus und zur Stärkung der pluralistischen Demokratie.

Die Bundesregierung kann außerdem darauf hinwirken, dass Soziale Netzwerke und Plattformen Transparenz über ihre Funktionsweise (z.B. Empfehlungsalgorithmen) herstellen und Daten für die Forschung zugänglich machen, z.B. insbesondere mit dem Fokus auf die Rolle dieser Plattformen in Radikalisierungsprozessen. Ein weiterer Ansatzpunkt ist, dass die Plattformen durch die Bereitstellung plattformeigener Funktionen die Nutzer/-innen befähigen, kritischer und reflektierter mit Inhalten und extremistischen Botschaften umzugehen.

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Foto: CC0 1.0, Pixabay / LoboStudioHamburg | Bildname: internet-whatsapp | Ausschnitt bearbeitet

Hier spielt auch die politische Bildung eine entscheidende Rolle. Anders als repressive Ansätze der Sicherheitsbehörden, die sich auf die Tätergruppen fokussieren, kann politische Bildung Betroffene von Hass und Menschenfeindlichkeit im Netz adressieren und deren Handlungskompetenz in der Konfrontation mit Diskriminierung stärken und die demokratische Haltung festigen.

Bei all dem ist mir eines wichtig zu betonen: Die Bundesregierung kann und wird einen großen Beitrag im Kampf gegen den Extremismus leisten, gerade – aber nicht nur – gegen den Rechtsextremismus. Doch unser Handeln als Regierung allein reicht nicht aus. Die gesamte Gesellschaft muss sich engagieren. Wir brauchen viele Menschen, die im Kleinen, in der Nachbarschaft wie im Netz, füreinander einstehen und Extremisten die Stirn bieten.

Sollten Plattformen wegen der dort stattfindenden Radikalisierung verboten bzw. gesperrt werden können, falls sie die gesetzlichen Anforderungen des NetzDG nicht einhalten?

Das Verbot bzw. die Sperrung einer Plattform ist eine sehr eingriffsintensive Maßnahme und kann nur unter genauer Prüfung der Verhältnismäßigkeit als „ultima ratio“ in Betracht kommen. Ein Verbot bzw. eine Sperrung trifft immer auch die rechtmäßigen Nutzer der Plattform, die den Dienst zur Kommunikation nutzen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung stellen Sperrmaßnahmen, die als Nebeneffekt wahllos rechtmäßige Inhalte träfen, einen willkürlichen Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit dar. Website-Sperren müssten mit Blick auf die Informationsfreiheit der Internetnutzer streng zielorientiert sein, den Nutzern dürfe die Möglichkeit zum Zugang zu rechtmäßigen Informationen nicht unnötig vorenthalten werden.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) sieht eine Sperrung bzw. ein Verbot eines Anbieters nicht vor. Verstöße der Anbieter sozialer Netzwerke gegen die Vorgaben des NetzDG können allerdings im Rahmen von Bußgeldverfahren geahndet werden.

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