Steven Hill: Rocket-Mittelstand und soziales Sicherheitsnetz zum Mitnehmen!

Foto: Henrik Andree
Veröffentlicht am 15.05.2017

Fotos: Henrik Andree
Steven Hill ist ein Fan des deutschen Systems und besonders unseres Mittelstandes“, sagte Iris Rothbauer, Head of Public Relations bei Telefónica in Deutschland, in ihrer Eröffnungsrede. Und dann zitierte sie den Kernsatz des neuen Buches von dem bekannten Autoren aus dem Silicon Valley: „Der Mittelstand ist ein Wirtschaftsmotor, der für Innovationen steht, die eindrucksvoller sind als sämtliche Entwicklungen aller Facebooks, Googles, Amazons, Ubers und Apples zusammen.“ Doch die Startup-Illusion, die Steven Hill am Donnerstag im Telefónica BASECAMP vorstellte, ist nicht nur ein Loblied.

Das Buch handelt davon, „wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert“, und soll ein Weckruf für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland sein, die Steven Hill durch digitale Tagelöhnerei und eine Flucht aus den Sozialsystemen bedroht sieht. Seine Lösung dafür: die Schaffung eines neuen Rocket-Mittelstandes, der sich die besten Qualitäten der Startups aneignet, ohne ihre risikoreichen Spielweisen aus dem Handbuch des „Kasino-Kapitalismus“ zu übernehmen, sowie ein „soziales Sicherheitsnetz zum Mitnehmen. Eine „KSK für alle“ solle die sozialen Sicherheitsnetze wieder enger knüpfen, die durch Uber, Upwork, Taskrabbit und andere Unternehmen der neuen Gig Economy ohne feste Arbeitsverhältnisse immer größere Löcher bekommen hätten.

Steven Hill: Sozialer Mahner aus dem Silicon Valley

Sind Sie eigentlich der Party-Pupser vom Silicon Valley, der den Startups ihre Stimmung verderben will?“, fragte der Moderator Malte Lehming bei der Diskussionsrunde, die auf einen Vortrag von Steven Hill folgte. Das könne schon wahr sein, antwortete der 59-jährige dem Journalisten vom Tagesspiegel. Aber die Recherchen für sein Buch hätten die Kritikpunkte belegt und viele Startup-CEOs würden seinen Argumenten zustimmen. „Die Gesetze in den USA und Deutschland können mit der Entwicklung der neuen digitalen Beschäftigungsverhältnisse einfach nicht mithalten“, brachte Steven Hill das Problem auf den Punkt. Deshalb hat er Vorschläge für neue Institutionen.

Steven Hill im Gespräch mit Malte Lehming.
Steven Hill im Gespräch mit Malte Lehming.

Das Geschäft der Startups vergleicht er gern mit einem Glücksspiel. „Sieben von zehn Unternehmen scheitern und nur eins wird wirklich ein Erfolg“, sagte Steven Hill. „Wenn das einer Regierung passieren würde, dann riefen die Leute sofort nach Neuwahlen.“ Die Ursache hält er für offensichtlich: Viele Geschäftsideen seien einfach schlecht. Wie bei dem Startup, das erst neulich eine große Finanzierung für seinen Bringdienst bekam, der Pizza direkt im Lieferwagen bäckt. „Was machen die eigentlich, wenn sie im Stau stehen?“, fragte der Skeptiker.

Und auch Uber, das mit fast neun Milliarden Dollar das höchstfinanzierte Startup der Welt ist, würde kein Geld verdienen. Allein im vergangenen Jahr habe der Online-Vermittler für Personenbeförderungen beinahe drei Milliarden Dollar verbrannt, weil er jede Fahrt mit seinem Risikokapital subventioniere, um eines Tages zum Monopolisten zu werden, wenn die Konkurrenz aus dem Weg geräumt ist. Zusätzlich würde die Firma sich nicht einmal an Gesetze halten, die sie wie in Kalifornien selbst auf den Weg brachte, sondern lieber Strafen zahlen. In San Francisco sei Uber inzwischen eine echte Plage, weil die Fahrer aus dem ganzen Bundesstaat kämen und die Straßen mit ihren Autos verstopften.

Mittelstand: Von Rocket lernen, heißt siegen lernen

Dieser Form der Disruption stellte Steven Hill den deutschen Mittelstand gegenüber, den er als „Wundertäter“ bezeichnete, weil er Millionen von Jobs schafft, nachhaltig wirtschaftet und pünktlich seine Abgaben zahlt. Nur mit der Digitalisierung habe er noch zu kämpfen, um weiter weltweit konkurrenzfähig zu sein. Deswegen sollten die Mittelständler von Deutschlands bekanntesten Startup-Brüter lernen, der neue digitale Geschäftsideen schon in wenigen Tagen zu fertigen Firmen formen kann. Wenn man die Fertigkeiten und den Erfindergeist des deutschen Mittelstandes mit der raketenschnellen Umsetzung und Skalierung von Rocket Internet kombiniere, dann würde eine einzigartige Kombination entstehen: ein Rocket-Mittelstand.

Stellte sein neues Buch „Die Start-up Illusion“ vor: Steven Hill

Doch auch die deutsche Politik habe noch einiges nachzuholen, sagt Steven Hill. In den vergangenen Jahren seien Millionen fester Jobs in der Bundesrepublik verlorengegangen und eine regelrechte Schattenwirtschaft entstanden: digitale Freelancer-Jobs, die über das Internet vermittelt werden, ohne dass jemand Steuern oder Sozialabgaben dafür zahlt. „Die fliegen alle unter dem Radar“, hätten seine Recherchen ergeben. Als Beispiel nannte er die amerikanische Internet-Plattform Upwork, die bei seinen Interviews mit deutschen Behörden nicht einmal bekannt war – und für die auch keine Zahlen erfasst würden.

Künstlersozialkasse: Vorbild für die Gig Economy?

Dennoch konnte Steven Hill mit wenigen Klicks auf der Website herausfinden, dass bei Upwork mehr als 18.000 Deutsche ihre Dienste anbieten und wahrscheinlich 71 Millionen Euro Umsatz pro Jahr generieren, für die eigentlich über zehn Millionen Euro an Krankenkassenbeiträgen fällig wären. Doch die meisten ausländischen Unternehmen, die solche deutschen Freelancer anstellen, würden sich diese Ausgaben einfach sparen, weil es hier sowieso niemand merkt. „Und das ist nur eine Plattform!“, warnte Steven Hill, doch im Internet gebe es Dutzende davon. Berechnungen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hätten ergeben, dass dem deutschen Sozialsystem dadurch Milliarden von Euro entgehen.

Deshalb schlägt er eine Künstlersozialkasse (KSK) für alle freien Beschäftigungsverhältnisse vor. Diese deutsche Eigenheit, bei welcher der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung durch eine Pauschalabgabe auf jeden einzelnen Auftrag erbracht wird, habe sich bei Musikern, Schauspielern und Journalisten schon gut bewährt. Doch jetzt solle man diese Lösung auch für andere Berufe nutzen und damit ein „soziales Sicherheitsnetz zum Mitnehmen“ knüpfen, das auch bei häufigen Wechseln der Arbeitgeber stabil bleibt. Und wenn sich Online-Plattformen der Meldepflicht für vermittelte Aufträge entziehen, dann könne man ihre Webseiten auch einfach in Deutschland blockieren. Das wäre mal eine andere Form der Disruption, dachten die Zuhörer.

Steven Hill ist heute schon zum zweiten Mal bei uns“, hatte Iris Rothbauer bei ihrer Eröffnung gesagt. Der vielgereiste Buchautor aus dem Silicon Valley ist anscheinend auch ein Fan des Telefónica BASECAMP, wie die Widmung in seinem neuen Buch zeigt. Deshalb sind wir nun schon sehr gespannt, welche interessanten Ideen er vielleicht bei seinem nächsten Auftritt mitbringt. Und schon am Donnerstag geht es wieder um die Arbeitswelt der Zukunft im Telefónica BASECAMP. Dann diskutieren führende Experten für Personal-Management, von der Bundesregierung und den Gewerkschaften bei den Tagesspiegel Data Debates über die Frage: Was leisten Mensch und Maschine am Arbeitsplatz?.

Mit dem Laden des Beitrags akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Flickr.
Mehr erfahren

Beitrag laden

Mehr Informationen:

Tagesspiegel: Berlin, lass dich auf den Mittelstand ein! (10.05.2017)
Gründerszene: Ruinieren Startups den deutschen Sozialstaat? (10.05.2017)
WIRED: Wie viel Silicon-Valley-Spirit brauchen wir in Deutschland? (09.05.2017)

Schlagworte

Empfehlung der Redaktion