Die Cloud und unser kulturelles Gedächtnis – Gastbeitrag von Dr. Peter Tauber

Foto: E-Plus-Gruppe
Veröffentlicht am 09.11.2011

Durch das Internet können wir auf eine unvorstellbare Menge an Informationen zugreifen, durch mobile Endgeräte sind diese mittlerweile jederzeit verfügbar geworden. Das in der Cloud abrufbare Wissen bietet viele Vorteile – nicht zuletzt als entscheidende Voraussetzung für Partizipation in der modernen Gesellschaft. Aber: Hat diese Entwicklung nicht auch Einfluss darauf, was und wie Menschen sich Dinge merken? Was ist es noch wert, zu lernen und zu wissen? Braucht man in Zukunft überhaupt noch ein Gedächtnis, wenn all das Wissen abrufbar ist?

Darüber wurde heute, am 09. November 2011 beim UdL Digital BREAK_fast im BASE_camp diskutiert. Die Grundlage dafür lieferte Dr. Peter Tauber, Bundestagsabgeordneter und Mitglied der Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft“ mit folgendem Impulsvortrag:

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Unser kulturelles Gedächtnis passt nicht in die Cloud – wie verändert die digitale Lebensweise Geschichtsbewusstsein und Identität?
Heute sitzen lauter kluge und vor allem wache Menschen hier beisammen. Darum möchte ich gerne mit zwei kleinen Aufgaben in meinen Vortrag starten und alle bitten, aktiv mitzumachen. Vielleicht beginnen wir mit einer leichten Aufgabe. Heute ist der 9. November. Was verbinden Sie und Ihr mit diesem Tag und diesem Datum? Wahrscheinlich fällt uns auch ohne technische Hilfsmittel ein, dass heute nicht nur der Jahrestag des Mauerfalls, sondern auch die so genannte „Reichskristallnacht“ 1938 stattfand. Andere werden auf den 9.11.1918 und das Ende des Kaiserreichs an diesem Tag verweisen. Alles in allem ist es also ein geschichtsträchtiger Tag für uns Deutsche.

Die zweite Aufgabe ist vielleicht etwas schwieriger. Ich nenne jetzt fünf Zitate. Wer kann mir jeweils zuerst die Quelle sagen? Technische Hilfsmittel sind erlaubt und erwünscht!

  1. „Ich bin besser als mein Ruf.“ – Friedrich Schiller, Maria Stuart, III, 4 (Maria)
  2. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ – Friedrich Schiller, Wilhelm Tell IV,3  (Tell)
  3. „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; Der Staat muß untergehn, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“ – Friedrich Schiller, Fragment Demetrius (Fürst Sapieha)
  4. „Ein Federzug von dieser Hand, und neu Erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit.“ – Friedrich Schiller, Don Carlos, III,10 (Malteserritter Marquis von Posa)
  5. „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.“ – Wilhelm Tell II,2 / Rösselmann (Rütli-Schwur)

Alle Zitate stammen, das haben wir festgestellt, aus den Werken Schillers. Haben wir eine Ahnung, worum es geht? Wir könnten im nächsten Schritt nachlesen, was der Inhalt von Wilhelm Tell ist, und das Demtriums ein unvollendetes Fragment geblieben ist. Wir erfahren aber so nichts, um das Werk Schillers insgesamt. Die Bedeutung der Freiheit als Grundgedanke in allen Werken. Die Rechtfertigung des Tyrannenmords im Wilhelm Tell oder die Bezwingung des Unrechts durch die gute Tat und das gute Beispiel. Die Schauplätze seiner Werke über ganz Europa verteilt. Was dies geistesgeschichtlich für uns und Europa bedeutet, wird so nicht deutlich. Vielleicht sagt der eine: „Habe ich trotz humanistischer Bildung so noch nicht gesehen oder auf diese Weise auf Schiller geschaut.“ Das mag sein. Vielleicht ist es auch kein gut gewähltes Beispiel. Mir ging es darum zu zeigen, wo ich eine der zentralen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft sehe. Welche ist das aus meiner Sicht?

Einer der nächsten Schritte hin zu einer digitalen Gesellschaft ist die Cloud. In der imaginären Wolke können wir künftig nicht nur von jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt auf unsere eigenen Daten, unsere Musik, von uns verfasste Texte, Zahlen, Tabellen und Bilder – also Teile unserer Erinnerung – zurückgreifen. Unser Wissen, die Dinge, die wir für wichtig erachten, sind für uns auch dann jederzeit verfügbar, wenn wir sie nicht mehr in unserem Kopf – auf unserer Festplatte – speichern und mit uns herumtragen. Das Internet verändert unsere Gesellschaft in nahezu allen Bereichen. Wir tragen unser Wissen dank Wikipedia und Google auf der einen sowie vielfältig nutzbarer Smartphones und Tablets auf der anderen Seite permanent abrufbar mit uns herum. Das in der Cloud abrufbare Wissen ist ein großer Vorteil, wer mag dies bestreiten. Der Zugang zu Wissen ob nun durch Open Access oder auch Projekte wie Google books ist in der modernen Gesellschaft eine entscheidende Voraussetzung für Teilhabe und Partizipation.

Die sich daraus ergebenden Veränderungen unserer Alltagskultur kennen wir alle. Wer kann noch dutzende von Telefonnummern auswendig, so wie das in den frühen 1990er Jahren noch üblich war? Ich kann zwar noch die Telefonnummer unserer Familie aus dem Jahr 1993 auswendig, aber nicht die heutige Mobiltelefonnummer meiner Mutter. Bevor ich allerdings analog zu Florian Illies in Erinnerungen der Generation Golf, der ich angehöre, zu schwelgen beginne:  die Bildungspolitik hat diesem kulturellen Veränderungsprozess schon längst Rechnung getragen, wenn in Schulen das Auswendiglernen deutscher Klassiker inzwischen geradezu verpönt ist.[1] Moderne Bildungspolitik setzt auf Methodenkompetenz. Ganz entscheidend ist dabei die Medienkompetenz. Der Zugang zu neuen Medien befähigt eben nicht,  diese entsprechend zu nutzen. Es klingt also leicht daher gesagt, dass wir einfach nur wissen müssen, wie wir uns Wissen erschließen, wo wir es finden und wie wir dann mit den vermeintlich relevanten Wissensbausteinen arbeiten.

Eine im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science veröffentliche Studie hat jetzt nachgewiesen, dass die jederzeit über das Internet verfügbaren Informationen erheblichen Einfluss darauf haben, was und wie Menschen sich Dinge merken. Am Ende beeinflusst die damit eng verknüpfte Fragen, was wir wissen, unser Denken und unsere Entscheidungen. Während sich ein tiefgreifender noch näher zu beschreibender gesellschaftlicher Wandel vollzieht, diskutieren Politik und Wirtschaft vor allem technische Entwicklungen und Rahmenbedingungen sowie Regulierungsvorschriften. Mit den Auswirkungen – positiv wie negativ – des Internets auf unsere Gesellschaft beschäftigen sich aber nur die wenigsten. Belastbare Forschungen und Studien sind Mangelware. Dem stehen dann bisweilen bedenkliche oder zumindest hilflos wirkende Aussagen mancher Politiker gegenüber, wie die fast schon als Stilblüten zu bezeichnenden Äußerungen manch eines  Bundestagsabgeordneten.

Dies führt zu dem unguten Gefühl vieler Menschen, für die das Internet inzwischen ein unverzichtbarer Bestandteil der eigenen Lebenswirklichkeit geworden ist, dass zahlreiche Entscheidungsträger unseres Landes dies nicht nachvollziehen und verstehen können. Dies stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, die es zu bewältigen gilt, will man sich überhaupt den Chancen der digitalen Gesellschaft nähern.

Ich persönlich bin der Überzeugung, dass wir gerade eine unblutige Revolution erleben, deren Folgen sehr viel weitreichender sein werden, als beispielsweise das Ende des Kalten Krieges, vielleicht sogar der Französischen Revolution. Und ich bin dankbar, dass ich diese Zeiten erleben darf, denn ich gestehe offen, dass ich von den sich ergebenden Chancen begeistert bin. Allerdings bin ich auch der Überzeugung, dass wie stets die Geschichte offen ist. Neben dem Erfolg steht das Scheitern und so liegt es am Ende an uns, ob das Internet zu einem Segen für eine freiheitliche Gesellschaft wird oder nicht. Der durch das Internet ausgelöste gesellschaftliche Veränderungsprozess vollzieht sich leise und nicht unmittelbar, so dass aus meiner Sicht die notwendige gesellschaftliche Debatte über das, was gerade geschieht, bis jetzt ausgeblieben ist.

In der digitalen Gesellschaft scheint mir neben des Zugangs und der Netzneutralität sowie demokratietheoretischen Überlegungen eine andere Frage von zentraler Bedeutung zu sein, der sich die Enquete-Kommission nicht wirklich nähern konnte:  welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unser kollektives Gedächtnis? Abgeleitet aus der Theorie von Jan Assmann, nach der das kollektive Gedächtnis – bestehend aus dem kommunikativen Gedächtnis der letzten drei Generationen und dem kulturellen Gedächtnis, dass die Weitergabe des Erfahrungsschatzes der Menschheit als solches umschreibt – müssen wir uns der Frage stellen, wie in der digitalen Gesellschaft künftig gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht. Noch stärker als in der pluralistischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts könnten künftig nicht mehr allein Erfahrungen, sondern in bisher ungekanntem Maße vor allem Interessen Menschen schichten- und grenzübergreifend miteinander verbinden. Was für das Individuum mit großen Vorteilen verbunden sein kann, ist für das Kollektiv eine Herausforderung. Eine solidarische Gesellschaft setzt voraus, dass Menschen durchaus entgegen ihren partikularen Interessen Verantwortung übernehmen und so am Ende einen Beitrag leisten, um Herausforderungen und Probleme von Gesellschaften zu meistern. Basis für diese nur auf den ersten Blick altruistische Haltung ist das kulturelle und kollektive Gedächtnis, das am Ende daran erinnert, dass man durch vermeintlichen individuellen Verzicht zugunsten der Gesellschaft persönlich profitiert.

Eine Veränderung des kollektiven Gedächtnisses in der digitalen Gesellschaft könnte am Ende also zu einem Auseinanderfallen von Gesellschaften führen. Im Kontext der Globalisierung bedeutet dies u.U., dass Eliten nicht mehr Verantwortung in einer Gesellschaft übernehmen, sondern ohne ein durch das kulturelle Gedächtnis geprägtes Bewusstsein sich der Lösung gesellschaftliche Probleme entziehen, indem sie individuelle Lösungen wählen. Dass Verhalten zahlreicher Manager und Banken, dass zur Finanzkrise des Jahres 2008, die seitdem die Welt in Atem hält, legt zumindest den Verdacht nah, dass die kurz skizzierte Annahme so falsch nicht ist. Denn des Internet mag ein Segen sein, so empfinden es viele Menschen. Es ist aber weder per se gut oder böse. Es ist das, was wir Menschen damit machen.

Aleida Assmann hat bereits Ende der 1990er Jahre auf die Bedeutung von externen Speichermedien für das kulturelle Gedächtnis hingewiesen. Natürlich lohnt die Betrachtung der Frage, was es noch wert ist, gelernt zu werden – und zwar nicht abgespeichert in der Cloud, sondern – um im Bild zu bleiben – auf der eigenen Festplatte? Entscheidend ist, welche Auswirkungen die Digitalisierung der Welt auf den Zusammenhalt und das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften hat. Warum? Wenn es kein Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, also einer verbindenden Identität gibt, warum sollten Menschen dann füreinander einstehen und Gesellschaften Krisen und anstehende Herausforderungen gemeinsam bestehen?

Es geht also im Kern um die Frage, was Menschen in der digitalen Gesellschaft miteinander verbindet und sie dazu bewegt, zusammen Probleme zu lösen. Wenn die Annahme stimmt, dass das kulturelle Gedächtnis hier eine besondere Rolle spielt, dann die Untersuchung der Auswirkungen  der digitalen Gesellschaft auf das Gedächtnis eine Pflichtaufgabe. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Prof. Dr. Peter Strohschneider hat in diesem Zusammenhang an die Bedeutung der Geisteswissenschaften für unsere Gesellschaft erinnert: „Geisteswissenschaften arbeiten an unserem Gedächtnis und unserer kulturellen Identität. Es geht deswegen gar nicht ohne sie.“ Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob es reicht, einige Wissenschaftler in den Elfenbeintürmen der deutschen Universitäten diesen Fragen nachgehen zu lassen. Wir alle müssen uns die Frage nach dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft stellen.

Entscheidend ist daher die Frage, wie es um unser kulturelles Gedächtnis bestellt ist, wenn wir nicht mehr lernen und wissen, was Eckpunkte unserer nationalen oder europäischen Geschichte sind, sondern nur noch, wo und wie wir sie nachschlagen können? Wie steht es um tradierte Werte und Rechtsgüter, wenn an die Stelle einer werteorientierten Erziehung die Vermittlung von Methodenkompetenz tritt? Worüber besteht Konsens in einer Gesellschaft und wie funktioniert der dafür notwendige Diskurs in der digitalen Gesellschaft und auf welchem gemeinsamen Wissen als Grundvoraussetzung baut er auf? Mit dieser Frage will ich mich intensiver beschäftigen und auch anhand einiger Beispiele einen Denkanstoß geben. Ich hoffe, dass diesem Denkanstoß dann ein kontinuierlicher Dialog an verschiedenen Stellen folgt. Denn ich finde, dass unser kulturelles Gedächtnis nicht in die Cloud passt.

[1] Thomas Mann erinnert in seiner 1955 verfassten Hommage an Friedrich Schiller daran, dass nicht nur im Bildungsbürgertum das wohl bekannteste Gedicht Friedrich Schillers zur Allgemeinbildung gehörte: „Aber es ist noch nicht lange her, dass Leute aus den einfachsten Volksschichten das Ganze auswendig konnten (…).“, zit. in: Thomas Mann, Versuch über Schiller. Zum 150. Todestag des Dichters – seinem Andenken in Liebe gewidmet, ND Frankfurt am Main 2005, S. 13.

Das UdL Digital BREAK_fast findet in regelmäßigen Abständen statt. Die Idee dahinter: Während eines Frühstücks hält ein Referent einen kurzen Impulsvortrag, mit dem Ziel, die Teilnehmer mit einem neuen Gedanken in den Tag gehen zu lassen. Falls jemand bei einer der nächsten Veranstaltungen selbst einen Gedanken vorstellen möchte, freuen wir uns über eine kurze Meldung.

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