BASECAMP One-to-One – Anna-Lena von Hodenberg: 54 Prozent der Internetnutzer*innen trauen sich nicht, ihre Meinung im Netz zu sagen.

Pressefoto Anna-Lena von Hodenberg | Quelle: hateaid.org
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Veröffentlicht am 08.02.2021

Pressefoto Anna-Lena von Hodenberg | Quelle: hateaid.org
Der internationale Safer Internet Day (SID) findet seit 2004 jährlich im Februar statt. Der Aktionstag hat sich in den vergangenen Jahren als ein wichtiger Bestandteil für all diejenigen etabliert, die sich für Online-Sicherheit und ein besseres Internet engagieren. Eine Organisation, auf die das zu 100 Prozent zutrifft, ist HateAid. Doch das Engagement des Teams um Geschäftsführerin Annalena von Hodenberg geht weit über den SID hinaus und hat die Stärkung und Verteidigung von Demokratie und Meinungsvielfalt im Netz zum Ziel. So werden viele Bürger*innen aufgrund ihres Engagements für eine demokratische Gesellschaft oder ihres Lebenshintergrundes angegriffen, eingeschüchtert und aus dem Internet vertrieben. HateAid hilft Betroffenen in solchen Situationen und unterstützt dabei, die Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Wir haben darüber mit Annalena von Hodenberg gesprochen.

Was bewegte Sie dazu, Ihre Karriere als Journalistin aufzugeben, um sich öffentlich zu engagieren und aktiv für Opfer von Hass einzusetzen?

Als ich 2015 gesehen habe, wie Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Deutschland und auch in anderen Ländern wieder Konjunktur haben, hat mich das sehr erschreckt. Ich habe lange mit mir gerungen, weil ich sehr gerne Journalistin war. Aber mir ist dann klar geworden, dass ich mich politisch positionieren und agieren will und das geht als seriöse Journalistin einfach nicht. Ich habe dann bei Campact Kampagnen gegen Rassismus gemacht. 2017 bin ich auf die ersten Berichte über organisierten Hass von rechten und rechtsextremen Netzwerken im Internet gestoßen. Als ich gesehen habe, mit wie wenig Mitteln, es möglich war, die öffentliche Debatte zu beeinflussen und Menschen nachhaltig mit Hass und Hetze aus Social Media herauszudrängen, war mir klar, dass wir an dem Thema arbeiten müssen. Meines Erachtens ist das eine der größten Gefahren für eine offene und liberale Demokratie, wenn Menschen faktisch kein Recht mehr haben, ihre Meinung öffentlich frei zu sagen, weil sie Angst vor Angriffen haben.

Inwiefern haben Ihnen Ihre Erfahrungen mit dem Engagement gegen Hass und Hetzte geholfen, den Aufbau von HateAid voranzutreiben?

Das war tatsächlich die Basis dafür. Wir haben bei Campact damals genau analysiert, wie es dazu kommen konnte, dass sich Menschen langfristig aus dem Netz zurückziehen und warum praktisch niemand was dagegen macht. Da sind dann die Grundlagen für HateAid klar geworden: Es brauchte eine Beratungsstelle, die auf die Bedürfnisse der Angegriffenen zugeschnitten war. Es brauchte Prozesskostenfinanzierung, damit die Betroffenen sich Anwält*innen nehmen und vor Gericht gehen konnten. Es brauchte öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, damit Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte aber auch die Politik hier endlich das übergeordnete Problem erkennen und handeln. Genau das bieten wir bei HateAid.

Wenn wir über die Dimension von digitaler Gewalt sprechen, reden wir mitnichten von Einzelfällen. Können Sie aktuelle Zahlen nennen, die das Ausmaß von Hate Speech verdeutlichen?

Es gibt zum Beispiel eine Forsa Studie im Auftrag der Landesmedienanstalt NRW, die zeigt, dass 73 Prozent der befragten Internetnutzer*innen schon einmal Hass und Hetze im Netz ausgesetzt waren. Unter jungen Menschen sind das sogar 94 Prozent. Diese Menschen wurden nicht selbst angegangen, aber sie haben gesehen wie andere öffentlich angegriffen wurden. Das ist in diesem Zusammenhang enorm wichtig. Weil das etwas mit uns macht. Wenn wir beobachten, dass andere Menschen in den Kommentarspalten bei Twitter oder Facebook attackiert werden, weil sie sich zu Gleichberechtigung, gegen Rassismus oder zum Klimawandel äußern, dann merken wir uns das unterbewusst. Das ist ein natürlicher Selbstschutzmechanismus. Und wenn wir das nächste Mal in die Situation kommen, uns zu diesen Themen zu äußern, sind wir eher zurückhaltend, weil wir nicht wollen, dass auch wir öffentlich an den Pranger gestellt werden oder wir Morddrohungen erhalten. In der Wissenschaft nennt man das „Silencing-Effekt“. Den kann man auch messen. Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft hat 2019 herausgefunden, dass 54 Prozent der Internetnutzer*innen sich mittlerweile oft nicht mehr trauen, ihre politische Meinung im Netz zu sagen. Sie haben Angst, selbst Opfer zu werden. Das ist wirklich besorgniserregend, weil wir hier sehr klar sehen können, wie die Strategie des Mundtotmachens aufgeht und wirkt.

Logo HateAid | Quelle: hateaid.org

Welche Forderungen haben Sie an die Politik, um digitaler Gewalt wirkungsvoll entgegenzutreten?

Solange es für Betroffene zu hohe Hürden gibt, um ihre Rechte gegen die Täter*innen durchzusetzen, wird sich nichts ändern. Hier ist die Politik gefragt. Wer im Netz beleidigt oder bedroht wird, muss meistens selbst vor Gericht ziehen, mit einem Rechtsbeistand, der ihn unterstützt. Aber Anwält*innen kosten Geld, oft mehrere Tausend Euro, die sofort fällig werden. Und wenn die Betroffenen verlieren, dann müssen sie auch die Anwaltskosten der Gegenseite tragen. Das macht verständlicherweise niemand. Es kann auch nicht sein, dass wir als zivilgesellschaftliche Organisation hier immer einspringen, zumal wir das auch nicht können. Deswegen müssen sich in punkto Beleidigung auch die Gesetze ändern. Wenn es sich um besonders heftige, z.B. rassistische Beleidigungen handelt, die von vielen Menschen gesehen oder geteilt werden, dann sollte eine Staatsanwaltschaft ermitteln. Denn der Silencing-Effekt, der hier wirkt, der geht uns alle an – das ist von öffentlichem Interesse und keine reine Privatsache der Betroffenen mehr, finden wir. Deswegen muss die Beleidigung zu einem so genannten „relativen Antragsdelikt“ werden. Im Netz ist sie nämlich ganz oft keine Bagatelle mehr. Das würde auch die Betroffenen langfristig extrem entlasten.

Was muss darüber hinaus passieren, um Opfer besser zu schützen und Täter überführen zu können?

Es braucht bessere Strafverfolgung. Polizist*innen, Staatsanwaltschaften und Gerichte müssen Betroffene ernst nehmen. Es werden immer noch viel zu viele Verfahren eingestellt. Das wichtigste aber passiert momentan nicht in Deutschland, sondern ein bisschen unter unserem Radar in Europa: der Digital Service Act. Hier legt die Europäische Union fest, wie viele Rechte Betroffene auf Social Media in Zukunft haben werden und ob wir in Deutschland die Plattformen verpflichten können, Daten von verurteilten Straftäter*innen rauszugeben. Moment ist das noch nicht möglich, was ein Riesenproblem bei der Strafverfolgung ist. Wenn in Deutschland Verbrechen auf Social Media begangen werden, müssen sie hier auch verfolgbar sein. Das müssen wir sicherstellen.

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Was sind Ihre wichtigsten Tipps, die Betroffen von digitaler Gewalt beachten sollten?

Das Wichtigste: Nicht zu lange damit alleine bleiben und unbedingt Hilfe holen. Zunächst vielleicht von Freund*innen, die Social-Media-Profile übernehmen, Beweise sichern sowie verbale Angriffe löschen und blockieren können. Dann zur Polizei – in vielen Bundesländern kann über Onlinewachen Anzeige erstattet werden. Das sollte man auf jeden Fall tun. Hilfreich sind zudem Beratungsstellen. Betroffene können sich zum Beinspiel an uns wenden – wir unterstützen dabei, Social-Media-Konten sicher zu machen und die Privatsphäre zu schützen. Und wir helfen bei der Beweissicherung und unterstützen mit kompetenten Anwält*innen, die wir finanzieren. Zudem sind wir sind einfach da, wenn Betroffene mit jemandem reden wollen. Wir wissen, was digitale Gewalt mit Menschen machen kann – bei uns müssen sich Betroffene nicht erklären.

Sehen Sie trotz der vielen negativen Erfahrungen durch Ihre Arbeit auch positive Aspekte der Digitalisierung?

Natürlich. Der digitale Raum ist unfassbar wichtig für uns und hat auch viele sehr positive Effekte. Der arabische Frühling hat sich über Facebook organisiert. Bewegungen wie Fridays for Future tauschen sich auch über Social Media und Messenger aus und sind deshalb auch so schlagkräftig. Jetzt während der Coronakrise bieten sie ein Mittel gegen die Selbstisolation und der Kommunikation. Für uns ist es aber wichtig, dass dieser Raum auch von allen Menschen angstfrei genutzt werden kann. Und dass es keine Möglichkeit zu massiver Manipulation gibt – so wie in den USA unter Präsident Trump beispielsweise. Und das ist leider heute nicht der Fall. Der digitale Raum muss ein sicherer Raum werden – es wird Zeit, dass wir die Digitalisierung nicht einfach passieren lassen, sondern als Bürger*innen aktiv mitgestalten.

Ende des vergangenen Jahres haben Sie für Ihre Arbeit die Auszeichnung zum „Social Hero“ im Rahmen des Digital Female Leader Awards erhalten. Was bedeutet Ihnen diese Ehrung?

Die Auszeichnung hat uns unheimlich gefreut. Mein Team und ich haben in den letzten Jahren unheimlich hart gearbeitet. Und wir haben dabei gesehen, wie groß der Bedarf für eine Organisation wie HateAid ist. Das hat uns immer wieder angespornt. Genauso natürlich wie die Erfolge, die wir schon feiern konnten: wir haben bis heute etwa 500 Klient*innen beraten, sie dabei unterstützt gegen die Täter*innen vorzugehen und sie ermutigt, sich nicht aus dem Netz zurückzuziehen. Der Award war ein tolles Dankeschön – nicht nur für mich, sondern für das ganze Team.

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