Alltag mit Corona: „Digitalisierung wird beschleunigt nachgeholt“

Grafik: CC0 1.0, Pixabay User Alexandra_Koch | Ausschnitt angepasst
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Veröffentlicht am 19.06.2020

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Arbeiten von zuhause ist seit der Corona-Krise für viele normal geworden. Auch wenn die Pandemie überwunden ist, wird einiges aus dieser Zeit hängen bleiben – davon gehen die Experten im Gespräch bei BASECAMP ON AIR aus. Deshalb geht es jetzt darum, Vor- und Nachteile auszugleichen.

Die Coronakrise hat unsere Arbeit und unseren Alltag stark verändert. So viele Beschäftigte wie nie zuvor arbeiten im Homeoffice. Was die einen als Entlastung empfinden, zum Beispiel vom langen Pendeln ins Büro, ist für berufstätige Eltern ein zusätzlicher Stressfaktor – weil sie ihre Kinder etwa neben der Arbeit unterrichten müssen. Vor diesem Hintergrund diskutierten Prof. Dr. Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, und die Grünen-Bundestagesabgeordnete Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin ihrer Fraktion für Arbeitnehmer*innenrechte, am vergangenen Mittwoch bei BASECAMP ON AIR. Moderator Philippe Gröschel, Head of Government Relations bei Telefónica Deutschland, wollte von seinen Gästen unter anderem wissen, welche Vor- und Nachteile sie im „neuen Normal“ sehen und wie diese in Balance gebracht werden können.

Umfang von Homeoffice deutlich gestiegen

Die Realität sieht so aus: „Derzeit ist jeder vierte Erwerbstätige im Homeoffice“, sagte Norbert Schneider zum Einstieg in die Diskussion und berief sich dabei auf Ergebnisse der Mannheimer Corona Studie 2020. Vor der Krise hätten dagegen nur neun Prozent der Erwerbstätigen angegeben, im letzten Monat mindestens einen Tag von zuhause aus gearbeitet zu haben. Die Daten vor der Pandemie stammen aus dem Mikrozensus 2018. Daher hält Schneider vor allem das Ausmaß des Homeoffice für bemerkenswert: Von gelegentlich ein bis zwei Tagen im Monat ist der Umfang auf fast 100 Prozent nach oben geschnellt.

Prof. Dr. Norbert Schneider | Foto: Screenshot

Jedoch biete sich die Arbeit von zu Hause natürlich nicht für alle Berufe an. Während vor zwei Jahren Lehrer an Schulen oder leitendes Management Homeoffice bereits öfter nutzten, lag der Anteil bei Dienstleistungsberufen, im Transport oder Verkehr unter drei Prozent, unterstrich Schneider.

Ein weiterer spannender Aspekt der Diskussion: Hat die Corona-Krise auch etwas an den Geschlechterrollen in der Gesellschaft verändert? Frauen übernehmen zwar weiterhin deutlich mehr Heimarbeit als Männer, allerdings sei der Unterschied um „über eine Stunde zurückgegangen“, sagte Schneider. Eine sogenannte „Re-Traditionalisierung“ der Geschlechterrollen ist nach seiner Interpretation daher nicht zu bestätigen. Es gebe insgesamt eine gleichmäßigere Verteilung der Aufgaben. „Aber mit anderen Daten haben wir auch gesehen, dass es ja eigentlich nie zu einer wirklichen Enttraditionalisierung der Geschlechterrollen gekommen ist. Die Hauptlast und auch die Hauptverantwortung bei Familienarbeit und bei Erziehungsarbeit lag bei den Frauen in der Vergangenheit vor der Corona-Krise und auch in den Corona-Zeiten.“

Väter sind mit aktueller Situation zufriedener

Im Hinblick auf die Zufriedenheit mit der aktuellen Situation gebe es keinen klaren Trend. Unzufriedener seien vor allem Menschen in Kurzarbeit und Mütter. Dagegen seien Väter zufriedener. „Insgesamt kann man feststellen: Väter erleben die Zeit, die sie mehr mit ihren Kindern verbringen können, durchaus als Krisengewinn, sagte Schneider. Insgesamt geht er in Sachen Homeoffice davon aus, dass es kein Zurück zum Status Quo vor Corona gibt.

Philippe Gröschel | Foto: Screenshot

„Es wird eine neue Balance von An- und Abwesenheit am Arbeitsplatz geben“, schlussfolgerte Schneider. Damit einher gehe eine Abnahme der Verkehrsbelastung, weil die Menschen weniger pendeln müssen. „Digitalisierung wird in diesen Monaten sehr beschleunigt nachgeholt.“ Dies bewirke auch, dass mehr junge Menschen aus der Stadt in Randgemeinden ziehen. Es zeichnet sich ein starker Trend zur Suburbanisierung ab, auch bedingt durch die Digitalisierung.

Homeoffice nur freiwillig und mit „Rückkehrrecht“

Für Beate Müller-Gemmeke ist klar: Die Digitalisierung bringt sehr wenig, wenn parallel nicht die Kinderbetreuung geregelt ist. Als Vorteil nennt sie, dass man sich seine Zeit besser einteilen kann, weil die Arbeit nicht mehr an einen Ort gebunden ist. Somit bleibe mehr Zeit für das Familienleben, Kinder oder die Pflege von älteren Menschen. Einen Nachteil sieht die Grünen-Politikerin darin, dass es zu Überforderung führen kann , zum Beispiel durch den Druck, immer schnell auf Nachrichten zu antworten. „Wir müssen sehr stark darauf achten, dass arbeiten durch die Digitalisierung nicht entgrenzt wird“, warnte Müller-Gemmeke. Sie mache sich sorgen, dass es zu „Hektik und Stress kommt unterm Strich“. Die Grenzen zwischen Beruf und Privatem verwischen. Daher müsse man einen Ausgleich finden. Schneider wies an dieser Stelle darauf hin, dass vor allem für Alleinlebende eine „relativ große Gefahr“ besehe, dass sie sozial isoliert werden, wenn sie nur noch im Homeoffice arbeiten. Wie Gemmeke sieht auch Schneider eine Gefahr durch die Vermischung von Privat- und Berufsleben.

Beate Müller-Gemmeke | Foto: Screenshot

Was kann der Gesetzgeber tun, um Pro und Contra auszugleichen? Es müsse „gute Spielregeln“ für die Arbeit im Homeoffice geben, forderte Müller-Gemmeke. Dies schaffe auch für den Arbeitgeber Sicherheit im Umgang damit. „Als erstes kann Homeoffice immer nur freiwillig sein“, sagte sie. „Dazu gehört für mich auch ein Rückkehrrecht an den festen Arbeitsplatz.“ 100 Prozent Homeoffice lehnt die Politikerin ab, wie auch der überwiegende Teil der Zuschauer. Schneider hält es hingegen für wichtig, dass neue Regeln nur einen Rahmen setzen, innerhalb dessen es so viele flexible Lösungen wie möglich geben sollte, um den individuellen Lebensentwürfen der Menschen gerecht zu werden.

Arbeitszeit neu regeln

Sollte die Digitalisierung nachweisbar die Produktivität steigern, fordert Müller-Gemmeke einen Ausgleich dafür für die Arbeitnehmer, „zum Beispiel sollte man darüber nachdenken, die Arbeitszeit zu reduzieren“. „Für die, die nicht digital arbeiten können, müssen wir uns einen Ausgleich überlegen, zum Beispiel einen Tag mehr Urlaub“, regte sie an. Die Arbeitszeit müsse auch im Homeoffice dokumentiert werden, Digitalisierung sollte aber nicht genutzt werden, um Beschäftigte zu überwachen. „Ich glaube nicht, dass es um Kontrolle geht, es braucht auch Vertrauen, sagte sie.

Menschen, die Wertschätzung und Vertrauen seitens des Arbeitgebers erfahren, seien auch loyaler eingestellt und zeigten eine größere Bereitschaft, sich einzubringen, betonte auch Schneider. Als Wissenschaftler erwarte er, dass die Zufriedenheit durch Digitalisierung steigt. „Digitalisierung ist zunächst einmal eine Chance“, sagte er. Es hänge nun davon ab, wieviel Flexibilität man für beide Seiten – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – erreichen kann. Das Recht auf Home-Office dürfe nicht zur Pflicht werden. Müller-Gemmeke sieht nun den Gesetzgeber am Zug, „den Schutz und die Freiheit unter einen Hut zu kriegen“. Die Grünen-Politikerin fordert ein Recht auf Homeoffice, „weil es bisher eher ein Privileg für wenige war“.

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