Social Media: Der Ukraine-Krieg als Zäsur digitaler Kommunikation?

Foto: Pixabay User emrahkarakas und BiljaST | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet | Montage
Foto: Pixabay User emrahkarakas und BiljaST | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet | Montage
Veröffentlicht am 22.04.2022

Von Benjamin Triebe

Die sozialen Medien spielen für die öffentliche Wahrnehmung des Ukraine-Kriegs eine besondere Rolle. Worin die Unterschiede zu früheren Konflikten bestehen und welche Effekte mit den vielen geteilten Bildern aus dem Krieg einhergehen, beleuchtet Benjamin Triebe (Researcher bei polisphere) in diesem Text.

Soziale Medien haben die Kommunikation in den vergangenen 15 Jahren stark verändert. Sie haben nicht nur den Austausch zwischen vielen verschiedenen Menschen vereinfacht, sondern vor allem das Sender-Empfänger-Verhältnis klassischer Medien weitgehend aufgehoben. Wie die Ereignisse des Arabischen Frühlings ab 2010 oder die Gezi-Park-Proteste in Istanbul 2013 gezeigt haben, wirken sich diese Kommunikationsmöglichkeiten auch stark auf politische Konflikte aus: Informationen, Bilder und Videos von Demonstrationen oder staatlichen Übergriffen finden durch Facebook, Twitter & Co. viel einfacher und schneller ihren Weg an die Öffentlichkeit, tragen zur Mobilisierung von Menschen bei und verändern das Verhalten der beteiligten Akteure und damit auch die Konflikte selbst. Speziell im Fall des Arabischen Frühlings bestand damals zudem eine weit verbreitete Hoffnung, dass soziale Medien zu mehr Demokratie führen könnten. Seitdem nutzen jedoch auch autoritäre Regime und extremistische Gruppen Social Media für ihre Zwecke und schwächen mit Zensur und Falschinformationen die Demokratie eher.

Klassische Medien erhöhen weiterhin die öffentliche Aufmerksamkeit

Weitere Beispiele für den enormen Einfluss von sozialen Medien auf heutige Konflikte sind etwa ihr Beitrag zum Aufstieg des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) zwischen 2014 und 2016, der mittels seiner Social-Media-Aktivitäten weltweit tausende Anhänger rekrutieren konnte. Oder die Mobilisierung für die Euromaidan-Proteste 2013/14 in der Ukraine, die der russischen Krim-Annexion vorausgingen.

Während bei all diesen Konflikten entsprechende Informationen und Videos grundsätzlich auch für Interessierte aus westlichen Gesellschaften auf den digitalen Plattformen verfügbar waren (von möglichen Sprachbarrieren einmal abgesehen), fungierten trotzdem meist klassische Medien aufgrund ihrer Reichweite weiterhin als Verstärker, indem sie einige der digital geteilten Bilder und Informationen weiter verbreiteten. Auch die jahrelangen Kriege in Afghanistan und Syrien bekamen in der Regel nur auf diese Weise kurzzeitig größere öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland und Europa, obwohl soziale Medien speziell im syrischen Bürger- und Stellvertreterkrieg selbst ausgiebig als Konfliktschauplatz und Propagandainstrument der verfeindeten Akteure genutzt wurden.

Was beim Ukraine-Krieg anders ist

Foto: Pixabay User geralt | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet

Mit der aktuellen russischen Invasion in der Ukraine erlebt Europa nun aber nicht nur sicherheitspolitisch eine Zeitenwende, sondern auch eine neue Qualität hinsichtlich des Umfangs und der Intensität des Bildmaterials und der Informationen, die in sozialen Medien geteilt werden. So besteht unter Expert:innen weitgehend Einigkeit darüber, dass der Krieg in der Ukraine kommunikativ neue Maßstäbe setzt. „Am deutlichsten erkennbar ist das vielleicht am Warfluencer oder Kriegfluencer, einem neuen Typus des Social Media-Nutzers“, wie Sascha Lobo vor kurzem in seiner Spiegel-Kolumne schrieb.

Doch was sind die Gründe für diese Veränderung? Liegt es vielleicht nur an der erhöhten Aufmerksamkeit der westlichen Gesellschaften aufgrund der Tatsache, dass in Europa nach langer Zeit wieder ein großflächiger Angriffs- und Eroberungskrieg stattfindet? In den ersten medialen und wissenschaftlichen Annäherungen an diese Fragen werden oft mehrere Faktoren genannt. Da ist zum einen die technische Dimension: Die Social-Media-Kanäle haben sich weiterentwickelt, funktionieren noch stärker multimedial und treffen auf verbesserte Endgeräte. So besitzen viele Smartphones heute andere technische Möglichkeiten, inklusive Kameras für Filme in hoher Qualität. Zugleich ist die Verfügbarkeit solcher Geräte weltweit gestiegen. Allein in der Ukraine hat ihre Zahl zwischen 2015 und 2020 von 10 auf 25 Millionen zugenommen.

Foto: Pixabay User solenfeyissa | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet

Dies führt zur sozio-ökonomischen Dimension: Die Ukraine als Schauplatz des Krieges verfügt über eine solide Internetabdeckung und eine große Zahl an Internet-Usern – vor Kriegsausbruch waren es 31 Millionen Menschen, was 72 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach (Stand Januar 2022). Trotz der vielen Menschen, die seitdem aus dem Land geflüchtet sind, fällt die Zahl der möglichen Augenzeugen, die sich vor Ort per Social Media in Echtzeit äußern und Bilder des Krieges teilen können, somit wesentlich größer aus als in anderen Konflikten. Unterstützt wird diese Entwicklung durch neue Kanäle wie TikTok oder Telegram, die das Spektrum des Austauschs und der Informationsübermittlung in den letzten Jahren zusätzlich erweitert haben und über die auch ein deutlich jüngeres Publikum erreicht wird als auf anderen Social-Media-Plattformen.

Weitere Faktoren für mehr Transparenz

Hinzu kommt, dass soziale Medien – auch durch die eingangs erwähnten Konflikte – weltweit an Bedeutung im gesellschaftlichen und politischen Alltag gewonnen haben. So haben viele Staaten und Regierungen diesen neuen Modus der Kommunikation mittlerweile akzeptiert und nutzen dessen Vorteile entsprechend für ihre eigene Informationspolitik. Besonders eindrücklich kann man das an den Beiträgen und Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj sehen, der mit seiner Art der politischen Kommunikation im Krieg zu einer Identifikationsfigur für viele Menschen geworden ist.

Foto: Pixabay User wir_sind_klein | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet | Bild retuschiert

In Kombination mit den heutzutage verfügbaren Daten kommerzieller Satellitenbetreiber und einer neu entstandenen Open-Source-Intelligence-Community (OSINT), die Informationen aus dem digitalen Raum auswertet und für andere aufbereitet, tragen all diese Faktoren zum „wohl transparentesten Krieg aller Zeiten“ bei, wie der Politikwissenschaftler Frank Sauer es formuliert hat.

„In einem Mosaik aus verwackelten Handyvideos präsentiert sich ein ganzes Land entschlossen im Widerstand gegen die Invasoren.“ (Daniel Leisegang, „Blätter für deutsche und internationale Politik“)

Digitale Asymmetrie gegen russische Desinformation

Dies steht in deutlichem Kontrast zur Situation in Russland, wo Informationen über den als „militärische Spezialoperation“ beschönigten Krieg zensiert werden und eine zunehmende Abkopplung des Internets vom Rest der Welt stattfindet. Der Machthaber im Kreml setzt dabei gegenüber der eigenen Bevölkerung vor allem auf althergebrachte Propaganda und Manipulation per Staatsfernsehen. In den sozialen Medien des Westens sind Putins Narrative über die Gründe und den Verlauf des russischen Angriffskrieges trotz seiner Troll-Armeen jedoch klar ins Hintertreffen geraten. Zum einen dürfte das mit der schnellen Reaktion der Tech-Konzerne zusammenhängen, die auf Bitten der ukrainischen Regierung für eine Asymmetrie im digitalen Raum gesorgt haben:

„Apple verbannte die Angebote kremlnaher Propagandasender wie „Russia Today“ aus seinem App Store; Facebook und Instagram blockieren russische Konten, die Desinformationen verbreiten. YouTube löschte zigtausende Videos mit Fake News und russischer Propaganda; die meisten der Plattformen stellten zudem den Verkauf von Werbung in Russland ein. Auf TikTok können russische Nutzer nicht mehr live streamen oder neue Inhalte hochladen; zudem hat TikTok in Russland alle ausländischen Konten blockiert.“ (Daniel Leisegang, „Blätter für deutsche und internationale Politik“)

Zum anderen scheint der Kreml die Wirkung und den Einfluss von Bildern und Videos aus den Kriegsgebieten unterschätzt zu haben, auch wenn mittlerweile versucht wird, darauf mit eigenen „Warfluencern“ zu reagieren. Sicherlich spielt hier auch Russlands Militärdoktrin eine Rolle, wonach keine Informationen zum Krieg ohne politische Filterung veröffentlicht werden dürfen und vielen Soldaten vor dem Einsatz sogar die Smartphones abgenommen werden. Die ukrainische Visualisierung der Geschehnisse konnte die von russischer Seite gestreuten Desinformationen in vielen sozialen Medien so schnell verdrängen und trug zusätzlich zur Informationsdominanz der Ukraine bei.

Die psychologische Wirkung der Kriegsbilder

Dies lenkt den Blick auf eine weitere wichtige Frage: Wie wirken sich die Kriegsbilder in den sozialen Medien eigentlich auf die Menschen aus, die diese Bilder betrachten? Psycholog:innen betonen, dass die ständige Konfrontation mit Bildern von Tod und Zerstörung zu Schlaflosigkeit, Unruhe und Dauerstress führen können – besonders, wenn man sich gegenüber den Ereignissen einfach nur ohnmächtig fühlt. Um daraus auszubrechen, entstehen aber auch oft aktive Handlungen, wie unter anderem die große Welle an solidarischer Hilfe für Geflüchtete und die Ukraine zeigt.

Foto: Flickr Lewin Bormann | CC BY-SA 2.0 | Ausschnitt bearbeitet

Der Impuls, nach der Betrachtung schrecklicher Kriegsbilder selbst aktiv zu werden, führt zudem oft dazu, sich selbst in den sozialen Medien zu dem Thema zu äußern und entsprechende Bilder oder Videos zu teilen. Gerade das hohe Maß an Emotionalisierung und die nicht immer verifizierbare Authentizität von Videos sorgen für eine schnellere Verbreitung, als dies bei reinen Textnachrichten der Fall ist. Zugleich erzeugen die Videos in den sozialen Medien durch ihre Unmittelbarkeit – gefühlt in Echtzeit – eine andere Wahrnehmung der Geschehnisse, als wenn etwa seriöse Nachrichtensendungen wie die Tagesschau erst am Abend ausgewählte Bilder präsentieren.

„Wir wissen aus sozialen Medien, wie Mariupol in der Belagerung aussieht, wie Kinder in den als Bombenbunker benutzten U-Bahnschächten von Kiew spielen, wie Menschen ungläubig vor den Trümmern der Gebäude stehen, die sie noch vor wenigen Wochen als sicheres Zuhause empfunden haben.“ (Sascha Lobo)

Präsenz der Gewalt

Das Gefühl der unmittelbaren Nähe kann aber auch in die Irre führen, besonders aufgrund der nachvollziehbaren Emotionen, die krasse Kriegsbilder bei den Betrachter:innen hervorrufen können. Nicht umsonst wird derzeit in allen klassischen Medien vor der Unsicherheit der zur Verfügung stehenden Informationen gewarnt. Zugleich gilt mit Blick auf die erhöhte Transparenz: „Aber wenn man die gleiche Szene aus den Blickwinkeln von vier, fünf Smartphones betrachten kann – dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie geschehen ist.“ (Sascha Lobo)

Hinzu kommen weitere Effekte der geteilten Bilder und Videos aus dem Krieg: Durch ihre starke Präsenz in den sozialen und klassischen Medien wirkt die Gewalt weniger abstrakt und weit weg als in anderen Konflikten. So wird durch die schnelle Verbreitung und einfache Zugänglichkeit von Bildern, etwa von russischen Gräueltaten aus Butscha, Irpin oder Mariupol, auch mehr öffentlicher Druck auf die westlichen Regierungen erzeugt, als das in früheren Konflikten der Fall war. Dies verändert die „virtuelle Rüstungsspirale“ und erschwert es staatlichen Stellen, den Krieg der Bilder zu kontrollieren.

Mit der aktuell starken Präsenz des Krieges geht zudem eine veränderte Wahrnehmung von Gewalt, Zerstörung und Tod einher. In vielen Teilen der Welt gehören diese Dinge leider seit langem zur Lebensrealität der Menschen dazu. Durch die Bilder aus der Ukraine rückt die Realität existenzieller Bedrohung und damit die eigene Verletzlichkeit auch in Deutschland und Westeuropa stärker in das Bewusstsein der Gesellschaft. Eine Entwicklung, die übrigens bereits mit der Corona-Pandemie eingesetzt hat und durch den Krieg nun gewissermaßen verstärkt wird.

Diese Effekte werden mit der Dauer des Krieges allerdings wieder abnehmen, da nach einer gewissen Zeit und immer neuen grausamen Bildern bei vielen Menschen eine Gewöhnung (oder Verdrängung) einsetzen wird: „Es kommt zu einer emotionalen Entkopplung. Das ist quasi ein Schutzmechanismus unseres Kopfes, der verhindert, dass wir uns gefühlsmäßig überlasten“, so der Trauma-Experte Matthis Schick in einem Watson-Artikel.

Offene Fragen für die Zukunft

Trotz dieser erwartbaren Entwicklung, der angesprochenen höheren Transparenz sowie der aktuellen Lage in der Ukraine sollte man sich insgesamt stets bewusst sein, dass auch soziale Medien – genau wie alle anderen Medienangebote – und die dort präsentierten Inhalte ein Mittel der Kriegsführung sein können. Für die Auseinandersetzung mit der Rolle sozialer Medien in Kriegszeiten ergeben sich zudem einige weiterführende Fragen, die Politik, Wissenschaft und Gesellschaft künftig stärker diskutieren sollten. So verdient zum Beispiel die allgemeine Betrachtung von digitalen Plattformen als supranationale Akteure und Teil geopolitischer Auseinandersetzungen mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Foto: Pixabay User AzamKamolov | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet

Die digitale Asymmetrie in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft etwa die Frage auf, ob die globalen Monopolstrukturen der Tech-Konzerne in anderen, moralisch weniger eindeutigen Konflikten nicht zum Problem werden könnten. Einen faden Vorgeschmack liefert zum Beispiel die Lockerung der Moderationsregeln bei Facebook und Instagram. Auf diesen Plattformen darf in einigen Ländern derzeit zu Gewalt gegen russische Soldaten aufgerufen werden – vermutlich, weil sonst zu viele Inhalte und Nutzer:innen gesperrt werden müssten. Dies kann allerdings nicht im Sinne eines offenen und demokratischen digitalen Raums sein, den sich die meisten Menschen wünschen. Solche Entwicklungen und die Rolle sozialer Medien in Kriegen und politischen Konflikten müssen deshalb weiterhin aufmerksam und kritisch beobachtet werden.

Dieser Artikel ist im Rahmen einer Kooperation mit polisphere auf der Webseite BASECAMP.digital erschienen.

Mehr Informationen:

Desinformation und Radikalisierung im Netz: Interview mit Anna Metzentin (Journalistin)
Hilfe für Geflüchtete und die Ukraine: Digitale Plattformen und Initiative

Schlagworte

Empfehlung der Redaktion