Das crazy: Warum Social Media über die Zukunft der Demokratie entscheidet
Von Fiene Oswald und Hannah Schimmele
Lange galten soziale Medien als nettes Extra für die politische Kommunikation. Diese Zeiten sind vorbei. Studienergebnisse zeigen: 74 Prozent der jungen Menschen informieren sich hauptsächlich über Instagram und TikTok. Während demokratische Parteien noch zögern, nutzen populistische Kräfte diese Lücke systematisch aus. Das hat Konsequenzen – nicht nur für den politischen Diskurs, sondern für die Zukunft der Demokratie selbst.
Social Media hat seinen Peak erreicht. Das sagen zumindest Zahlen der Financial Times, (öffnet in neuem Tab) die sich auf Daten des Marktforschungsunternehmens GWI stützen. Seit 2022 gehe die tägliche Nutzungsdauer demnach von gut 2,5 Stunden pro Tag um 10 Minuten zurück. Ob man diese Betrachtung teilt oder – wie der Social Media Watchblog (öffnet in neuem Tab) – zu einem anderen Ergebnis kommt: Soziale Netzwerke sind und bleiben vorerst Dreh- und Angelpunkt politischer Kommunikation und prägen demokratische Einstellungen einer ganzen Generation.
Die Zahlen dazu sind eindeutig: Social Media hat klassische Informationsquellen als politische Leitmedien für junge Menschen abgelöst. Noch vor Schule, Familie oder Freunden informieren sich drei Viertel der 16- bis 27-Jährigen (öffnet in neuem Tab) über politische Themen in den sozialen Netzwerken. Dabei passiert Politik meist nicht gezielt, sondern „nebenbei“ über algorithmisch kuratierte Feeds, so eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung (öffnet in neuem Tab). Dabei “glauben wir, TikTok sei ein Raum, der maßgeblich von jungen Menschen selbst kuratiert wird – ein Spiegel ihrer Interessen und ihrer Kultur. Das stimmt so jedoch nicht. Jedenfalls nicht in dieser Einfachheit. Die kuratierende Kraft der unsichtbaren Algorithmen ist stark und kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, weil sie den Eindruck prägt, was relevant oder typisch sei. Junge Menschen sehen auf diesen Plattformen überwiegend Negatives aus der Politik und das beeinflusst selbstverständlich ihr Bild von Politik”, erklärt Studienautorin Paulina Fröhlich.

Feeds entstehen dabei weder zufällig noch nach journalistischen oder demokratischen Kriterien, sondern folgen den Gesetzmäßigkeiten der Aufmerksamkeitsökonomie. Dabei ist bemerkenswert, dass nur 38 Prozent (öffnet in neuem Tab) der befragten Jugendlichen gezielt Politikern oder Parteien folgen. Vor dem Hintergrund, dass 67% (öffnet in neuem Tab) aller Bundestagsabgeordneten angeben, Tik Tok zu benutzen, scheint diese Zahl recht niedrig. 60 Prozent wiederum geben an, vorwiegend den Inhalt von politischen Influencern (öffnet in neuem Tab) zu konsumieren. Letztere zeichnen sich laut einer Untersuchung (öffnet in neuem Tab) der Landesanstalt für Medien NRW besonders durch die Vermischung von Meinung und Information aus. Des Weiteren zeigen die Ergebnisse, dass die Konstruktion von Feindbildern, die politische Konflikte vereinfachen und emotional aufladen, weit mehr junge Menschen erreicht, als Inhalte, die journalistischen Sorgfaltspflichten nachkommen. Ein Beispiel hierfür ist Leonard Jäger (öffnet in neuem Tab) aka “Ketzer der Neuzeit”, dessen politische Botschaften klar darauf abzielen, seine Zuschauer von seinen fundamentalistischen Ansichten zu überzeugen.
Populismus bringt Reichweite, Demokratie geht selten viral

Die Plattformlogik belohnt emotionale Zuspitzung und Angriffe. Videos mit Attacken auf politische Gegner erzielen 40 Prozent mehr Aufrufe (öffnet in neuem Tab) als solche ohne. Themen wie Migration bringen elf Prozent (öffnet in neuem Tab) mehr Reichweite, während Bildungs- und Umweltthemen 18 Prozent weniger Sichtbarkeit erreichen.
Von dieser Plattformlogik (öffnet in neuem Tab) profitieren vor allem die AfD und das BSW. Während bei SPD und Volt fast 90 Prozent der Videos aus Selbstdarstellung bestehen, führt die AfD bei Angriffen mit 73 Prozent, gefolgt vom BSW mit 60 Prozent. Das Ergebnis: Populistische Parteien dominieren die Reichweiten-Rankings auf TikTok und Instagram. Obwohl Expert:innen davor warnen, Kausalität und Korrelation nicht zu verwechseln, bleiben die Wahlergebnisse (öffnet in neuem Tab) frappierend: Bei der Bundestagswahl 2025 (öffnet in neuem Tab) wählten 25 Prozent der 18- bis 24-Jährigen die Linke, 21 Prozent die AfD. Exakt jene Parteien, die auch auf TikTok am erfolgreichsten agieren.
Trotz aller Kritik sehen 64 Prozent der jungen Menschen (öffnet in neuem Tab) Social Media als geeigneten Ort, um ihre Generation zu erreichen. Ihre Wünsche sind klar: 81 Prozent fordern Ehrlichkeit und Authentizität, 68 Prozent lehnen Angriffe auf politische Gegner ab. Stattdessen wollen sie einfache, verständliche Sprache und Menschlichkeit – keine perfekt inszenierten Auftritte. Außerdem zeigt sich: Peinlichkeitsfaktor schlägt Reichweite. Tanzen in politischen Videos hat einen signifikant negativen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit, ein Video weiterschauen zu wollen. Stattdessen schätzen junge Menschen niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten und die Chance, verschiedene Perspektiven miteinander zu vergleichen.
Der Erfolg von Heidi Reichinnek
Dass trotz allem demokratische Inhalte durchaus viral gehen können, beweist Linke-Politikerin Heidi Reichinnek (öffnet in neuem Tab). Mit ihrer „Brandmauer-Rede (öffnet in neuem Tab)” nach dem Entschließungsantrag der Unionsfraktion zur Migrationspoliitk erreichte sie Millionen von Zuschauern. Ihr Erfolgsrezept: (öffnet in neuem Tab) authentische, plattformspezifische Aufbereitung komplexer politischer Themen ohne reine Fundamentalopposition.

„Sie hat einen eigenen Stil erfunden (öffnet in neuem Tab)”, beobachtet Politikberater Martin Fuchs. Reichinnek verstehe es, die TikTok-Ästhetik zu bedienen und das zu liefern, was sich Menschen auf der Plattform wünschten. Besonders ihre emotionale Bundestagsrede zur „Brandmauer“ verdoppelte ihre Follower-Zahlen innerhalb weniger Tage. Der Erfolg zeigt: Pro-demokratische Inhalte können funktionieren, wenn sie die Plattformlogik (öffnet in neuem Tab) verstehen, ohne populistische Mechanismen zu kopieren.
Deutschland und die EU ringen um Regulierung
Doch der Kampf um die Meinungsbildung im Netz wird nicht nur mit Content geführt. Mit dem Digital Services Act (DSA) (öffnet in neuem Tab) versucht die EU, die Macht der Plattformen zu begrenzen. Sehr große Online-Plattformen müssen seit November 2022 systemische Risiken bewerten, Transparenz bei Algorithmen schaffen und alternative Feeds ohne Profiling anbieten – gerade für junge Menschen eine wichtige Alternative zu den auf sie zugeschnittenen Inhalten. Ähnlich verpflichtet die Transparency and Targeting of Political Advertising Regulation (TTPA) Plattformen seit Oktober 2025, alle politischen Anzeigen klar zu kennzeichnen und transparent über Sponsoren, Kosten und Targeting-Methoden zu informieren. Erschwert werden diese Vorhaben durch den unklaren Bereich der Tätigkeiten von Political Influencern, die weder klar in den journalistischen, noch im klassischen Werbungsbereich einzuordnen sind. Auch viele Risikoberichte der Plattformen sind nicht öffentlich zugänglich und folgen keinem einheitlichen Standard. Zudem wächst der Widerstand aus den USA: Meta-Chef Mark Zuckerberg fordert eine US-Intervention gegen EU-Regulierungen, während Elon Musk europäische Vorschriften als „Zensur“ bezeichnet.

Auch an und über Schulen wird die Debatte geführt: In Deutschland warnt Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Hurrelmann davor, dass ein striktes Social Media verbot “äußerst riskant (öffnet in neuem Tab)” sei. Stattdessen plädiert er für mehr Mut zur Plattform-Regulierung, entschlossene Kompetenzförderung und Schulen, die digitale Lernkulturen gestalten. Seine Kritik trifft einen wunden Punkt: Die Lösung liegt nicht in pauschalen Verboten oder dem Ignorieren der Realität, sondern in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen politischer Kommunikation auf Social Media.
Statt Jugendliche zu „drangsalieren“, müsse die Politik die Plattformen regulieren (öffnet in neuem Tab) – durch strikte Altersverifikation, Transparenz bei Algorithmen und das Verbot manipulativer Features. Parallel braucht es digitale Bildung als Kernkompetenz. Schüler müssen lernen, Algorithmen zu verstehen und Informationen kritisch zu bewerten. Lehrer benötigen verpflichtende Fortbildungen, um junge Menschen souverän durch die digitale Welt zu begleiten.
Tatsächlich hat die Bundesregierung im Herbst 2025 eine interdisziplinäre Expertenkommission (öffnet in neuem Tab) “Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt” eingesetzt, die bis zur Sommerpause 2026 konkrete Handlungsempfehlungen erarbeiten soll. Dabei wird intensiv über ein Mindestalter von 16 Jahren für die Nutzung sozialer Medien nach australischem Vorbild diskutiert.
Demokratie braucht individuelle digitale Souveränität
Unabhängig vom persönlichen Geschmack und über das gesamte politische und gesellschaftliche Spektrum ist klar, dass Social Media heute unverzichtbar für das Informations- und Diskursverhalten, die demokratische Teilhabe und die politische Willensbildung junger Menschen geworden ist. Der Appell an demokratische Politiker und Politikerinnen lautet daher, soziale Medien kontinuierlich zu nutzen (nicht nur im Wahlkampf), die Plattformlogiken besser zu verstehen, ohne populistischen Mechanismen zu nachzugeben, und so einen konstruktiven Diskurs zu fördern. Paulina Fröhlich warnt:
“Wenn sie populistische Verkürzung nachahmen, schaden sie sich, wenn sie ihr aber demokratische Kommunikation entgegensetzen – in einfacher Sprache und klaren Bezügen zum Alltag der Menschen, schwächen sie den Populismus.”
Die Fallstricke des digitalen Politikdiskurses sind offenkundig. Deshalb sind fundierte Medienbildung und eine effektive Regulierung der Plattformen unabdingbar, damit die Generationen Z und Alpha politisch teilhaben können – auf eine Weise, die authentisch, zeitgemäß und auf Augenhöhe geschieht.
Wer jetzt nicht handelt, riskiert, eine ganze Generation an populistische Kräfte zu verlieren. Es geht nicht um Klickzahlen oder virale Videos. Es geht darum, eine lebendige demokratische Kultur im digitalen Raum aufzubauen – dort, wo junge Menschen bereits sind.
Mehr Informationen:
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