Ambitioniert, aber ambivalent: Zwischenzeugnis für Schwarz-Rot

Credits: iStock/bluejayphoto
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Veröffentlicht am 10.07.2025

Mit dem 70-Tage-Programm wollte die Bundesregierung zu Beginn ihrer Amtszeit ein klares Signal setzen: Tempo, Pragmatismus und sichtbare Ergebnisse ohne öffentlichen Streit sollten den schwarz-roten Start prägen und den versprochenen Politikwechsel sichtbar machen. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause und dem Ablauf dieser Frist zeigt sich: Anspruch und Realität klaffen an vielen Stellen noch auseinander – gerade im Digitalen.

Die schwarz-rote Koalition hat sich ambitionierte Ziele gesteckt: Von der sogenannten Migrationswende über die Ankurbelung der Wirtschaft durch Senkung der Stromkosten, Bürokratieabbau, Investitionen in Infrastruktur und den “Bauturbo“ bis hin zu sozialpolitischen Reformen und einem Boost der Verteidigungsausgaben war die eigens gesetzte Messlatte hoch. Auch die Erwartungen im Bereich Digitales waren groß, sind durch den anhaltenden Aufbau des Ministeriums jedoch gehemmt.

Um das groß angekündigte 70-Tage-Programm wurde es in den letzten Wochen auffallend still. Die Realität des Regierens zollte ihren Tribut und mit den neuen Zuschnitten der Ministerien bzw. deren Neuaufbau war man mehr als genügend beschäftigt. Spätestens mit der Bruchlandung der Stromsteuer hat das Merz-Kabinett gar Ampel-Vibes versprüht – was man eigentlich tunlichst vermeiden wollte. Eine Bestandsaufnahme der Regierungsperformance vor der Sommerpause:

Baustelle Digitalministerium

Jede politische Ambition steht und fällt mit ihrer Finanzierung: Zentraler Aufhänger dafür ist die von Finanzminister Lars Klingbeils eingebrachte Haushaltsplanung. Bis 2029 plant die Regierung eine Neuverschuldung von 850 Milliarden Euro – eine beispiellose Summe. Doch nicht für alle Bereiche gibt es (genug) Mittel.

Karsten Wildberger | Credit: Jesco Denzel

Auch für die Digitalpolitik ist das Geld knapp. Die Zuweisungen und Zuschüsse für das Ressort sinken im Haushaltsplan (öffnet in neuem Tab) überwiegend, einen Einzelplan für das BMDS gibt es ebenso wenig. Die Mission der Digitalisierung der Verwaltung, die im ersten Koalitionsausschuss noch unter dem Motto “Handlungsfähiger Staat” gefasst wurde, erhält damit zumindest keinen Turbo. Auch Minister Wildberger selbst ist weder im eigenen Haus noch in der Bevölkerung angekommen: Laut INSA können 53 Prozent der Befragten nicht einschätzen, was der Digitalminister macht und nur 17 Prozent attestieren ihm eine gute Arbeit – der schlechteste Wert im Kabinett.

Dabei werden abseits der Haushaltsdebatten durchaus Weichen gestellt und erste positive Impulse vernommen. So hat der Bundestag mit der Verabschiedung des vom Kabinett eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes beschlossen, den Ausbau von Telekommunikations- und Energienetzen als “überragendes öffentliches Interesse“ (öffnet in neuem Tab) einzustufen. Dadurch sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren erheblich beschleunigt und der Netzausbau vorangetrieben werden.

Das TKG-Änderungsgesetz und die gesetzlich verankerte Priorisierung von Netzausbauvorhaben schaffen damit auch einen politischen und rechtlichen Rahmen, der indirekt auch für die Frequenzvergabe relevant ist. Die Entscheidung der Bundesnetzagentur, auslaufende Mobilfunkfrequenzen ohne Auktion zu verlängern, bietet den Netzbetreibern gleichzeitig Planungs- und Investitionssicherheit für den weiteren 5G-Ausbau. Im Herbst soll dann eine umfassendere Telekommunikationsgesetz-Novelle folgen, das Eckpunkte-Papier sei schon in den Startlöchern.

Neues gibt es auch in Sachen Cybersicherheit. Seit dem 24. Juni 2025 liegt ein neuer Entwurf zum NIS-2-Umsetzungs- und Cybersicherheitsstärkungsgesetz (NIS2UmsuCG) vor. Im Rahmen der Verbändeanhörung am 4. Juli kamen die betroffenen Wirtschaftssektoren zu Wort. Die Umsetzung der EU-weiten NIS-2-Richtlinie sei ein Schritt in die richtige Richtung und ein positives Signal, die nötige Klarheit für die Praxis fehle aber noch. Durch eine engere Ressortabstimmung und die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem BSI solldeutlich erhöht und die digitale Souveränität gestärkt werden.

Credit: iStock/solarseven

Beim Thema Cybersicherheit  zeigt sich  gleichzeitig ein begrenzter Gestaltungsspielraum (öffnet in neuem Tab) des Digitalministeriums und potenzielle Konflikte um Fragen der Behördenaufsicht, da sich BMDS und BMI die Fachaufsicht für das BSI teilen, der Bereich Cybersicherheit jedoch weiterhin hauptsächlich beim Innenministerium liegt. Ähnlich zeigt sich die Fragmentierung digitalpolitischer Zuständigkeiten am Beispiel der Bundesnetzagentur, die teils weiterhin im Geschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums liegt. Ob das BMDS damit als Wachstumsmotor für die Wirtschaft (öffnet in neuem Tab) wirken kann, bleibt weiterhin offen.

Haushaltsentwurf offenbart Spannungsfelder

Besonders deutlich wurde die Debatte um verfügbare Gelder beim Thema Stromsteuer, die vorerst nur für die Industrie sowie die Land- und Forstwirtschaft gesenkt werden soll. Was im Koalitionsvertrag als “Sofortmaßnahme für alle” angekündigt wurde, scheiterte nun an der Realität der Haushaltszwänge, aber auch an einer politischen Prioritätensetzung. Auch die Digitalbranche zeigt sich enttäuscht, denn sie hatte endlich mit der Entlastung gerechnet und wird nun erneut nicht berücksichtigt, weil sie kein produzierendes Gewerbe ist. Konkret befürchtet auch die Telekommunikationsbranche erhebliche negative Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit, da der Betrieb von weit verzweigten dezentralen Netzen enormen Energiebedarf aufweist.

Wirklich zufrieden war mit dem Ergebnis des Koalitionsausschusses am 2. Juli also niemand. Und weiterhin hält die Kritik aus der Union (öffnet in neuem Tab) an. Einen klaren Erfolg konnte hingegen CSU-Chef Markus Söder verbuchen. Die Mütterrente soll nun bereits 2027 statt wie geplant 2028 eingeführt werden. Die jährlichen Kosten dafür belaufen sich auf rund 5 Milliarden Euro – etwa so viel wie die abgelehnte Stromsteuersenkung für alle. „Angesichts der klammen Kassen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, warum Markus Söder in derselben Sitzung, in der die Stromsteuersenkung für nicht finanzierbar erklärt wird, eine frühere Ausweitung der Mütterrente durchdrückt“, kritisierte Jens Südekum, ökonomischer Berater von Finanzminister Klingbeil.

Zwischen Union und SPD gibt es jedoch nicht nur erhebliche Meinungsverschiedenheiten über Finanzierungskonzepte. Auch parteipolitische Prioritätensetzung und ideologische Vorhaben sind Streitpunkte. Dazu gehört beispielsweise die Frage eines AfD-Verbotsverfahrens, für das sich die SPD Ende Juni auf ihrem Parteitag ausgesprochen hat, während große Teile von CDU und CSU ein solches kategorisch ablehnen.

Ein weiterer Konfliktherd zeigt sich in der Sozialpolitik, insbesondere beim Bürgergeld. Unionsfraktionschef Jens Spahn sieht die Kosten von “über 50 Milliarden Euro aus dem Ruder laufen” und fordert strukturelle Reformen. Geplant sind Einsparungen von 1,5 Milliarden Euro bereits für 2026. SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas hält dagegen. Auf dem SPD-Parteitag versicherte sie: „Einen sozialen Kahlschlag wird es mit mir nicht geben“. Beim Mindestlohn konnte man einen Kompromiss verbuchen: Die 15 € werden es zwar (noch) nicht, aber über einen Zwischenstopp bei 13,90 € im kommenden Jahr nähert man sich der sozialdemokratischen Zielmarke mit 14,60 € zum 1. Januar 2027 recht nah an.

Foto: shutterstock / Romolo Tavani

Klimaschutz, ja – aber bitte nur, wenn er sich rechnet. So könnte man die bisherige Positionierung von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) zusammenfassen. Beim “Tag der Industrie” stellte sie das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 indirekt infrage und plädierte für eine “Harmonisierung mit internationalen Zielen” – sprich: eine Verlängerung bis 2050. Unterstützung kam von Kanzler Merz.

Der SPD-Koalitionspartner sieht das ganz anders. “Wer das jetzt aufweichen will, gefährdet nicht nur politische Verlässlichkeit, sondern auch unsere Verantwortung für kommende Generationen”, warnte Jakob Blankenberg, klimapolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Auch beim Thema Atomenergie zeigen sich Risse zwischen Reiche und SPD-Umweltminister Carsten Schneider. Von einer harmonischen Twin Transition (öffnet in neuem Tab), also dem Wandel zu einer klimaschonenden Digitalisierung und einer ineinandergreifenden Zusammenarbeit der Ressorts Wirtschaft, Umwelt und Digitales, ist man noch weit entfernt.

Was aber alle Beteiligten freuen dürfte: Die jüngsten Wirtschaftsdaten haben sich spürbar aufgehellt, was als erster Erfolg der Investitionsoffensive gewertet werden darf. Der Druck in der Migrationspolitik ist ebenfalls geringer geworden – zumindest im Inland. In Warschau (öffnet in neuem Tab) sieht man beispielsweise durchaus kritisch auf den neuen Kurs.

Ambitionierte Pläne, erste Risse

Weder in 70 noch in 100 Tagen kann man von einer neuen Bundesregierung Wunder erwarten – aber ein erstes Zwischenfazit: Einige, teilweise auch vielversprechende, Grundsteine sind gelegt, inhaltliche Konfliktpunkte bilden sich heraus und die koalitionsinterne Streitkultur hat die ersten Härtetests hinter sich. Bisher zudem auf der Haben-Seite: Kanzler und Vizekanzler scheinen einen guten Draht zu haben und Friedrich Merz’ Popularitätswerte zeigen jüngst wieder nach oben. Das hat auch mit seiner soliden Performance auf internationalem Parkett zu tun, was dem Gesamteindruck der Regierung derzeit noch zugutekommt.

Am kommenden Freitag, dem 11. Juli, geht der Bundestag nun in seine erste Sommerpause mit einem Bundeskanzler Friedrich Merz – und kommt im September eine Woche früher als ursprünglich geplant wieder zurück, um einen Puffer für die Haushaltsberatungen zu schaffen. Ob die schwarz-rote Koalition ihre ambitionierten Ziele eines Politikwechsels umsetzen kann, wird sich dann vor allem ab Herbst zeigen. In der ersten Kabinettsklausur der neuen Regierung im September soll Digitalminister Wildberger sein Maßnahmenpaket zum digitalen Umbau des Staates vorlegen. Einer der wenigen Programmpunkte, die schon feststehen. Vielleicht ein gutes Omen für die Sommerpause.

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