Arbeiten 4.0: Pro und Kontra der neuen Flexibilität

Veröffentlicht am 29.03.2016

Anlässlich der Halbzeitkonferenz im Dialogprozess Arbeiten 4.0 hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles am 15. März die neue Studie „Wertewelten Arbeiten 4.0“ vorgestellt, die sich mit den Einschätzungen von Arbeitnehmern über die heutige Arbeitswelt und deren Wünschen für die Arbeitswelt der Zukunft auseinandersetzt. Auf der Grundlage von 1.200 Interviews hat das Methoden- und Beratungsunternehmen netzpractice sieben unterschiedliche Idealbilder von Arbeit ermittelt, die von einer großen Pluralität hinsichtlich der Anforderungen an Arbeit zeugen. Was für den einen wünschenswert ist, stellt für die anderen ein bedrohliches Szenario dar. Unternehmen, Sozialpartner und die Politik müssten diese Diversität in Zukunft bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen stärker berücksichtigen, plädiert das BMAS.

Studie zu Wertevorstellungen

Die unterschiedlichen Präferenzen in punkto Arbeitsorganisation werden in der Studie beispielhaft beim Themenfeld Arbeitszeit und Arbeitsort deutlich. Die Mehrheit der Befragten würde die Arbeitszeit gern individueller gestalten. Dies ist insbesondere bei den Wertewelten „Sich in der Arbeit selbst verwirklichen“, „Engagiert Höchstleistungen erzielen“ sowie „Balance zwischen Arbeit und Leben finden“ der Fall. „Sie hoffen bei der Ausgestaltung individueller Lösungen auf geeignete Rahmensetzungen und suchen darin Unterstützung durch Institutionen (Arbeitgeber und Politik)“, heißt es in der Studie. Das beinhalte je nach Schwerpunktsetzung Flexibilität und Rücksichtnahme des Arbeitgebers in außergewöhnlichen Belastungssituationen, aber auch die grundsätzliche Möglichkeit, die eigene Arbeit flexibel einteilen zu können. „Ergebnisorientierung ohne Präsenzzwang“ lautet hier die Maxime. Demgegenüber gibt es Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeit mit den Begriffen „geregelte Welt“, „Geborgenheit“ und „Verlässlichkeit“ verknüpfen und somit diametral andere Vorstellungen als die ersten drei Gruppen haben. Diese Personen lassen sich in den Wertewelten „Sorgenfrei von der Arbeit leben können“, „Im Schutz der Solidargemeinschaft arbeiten“ und zum Teil auch in der Gruppe „Sinn außerhalb seiner Arbeit suchen“ finden. Unter Flexibilität verstehen diese Arbeitnehmer in erster Linie „ein durchsetzbares Recht auf Teilzeit“, um Arbeit und Freizeit bei Bedarf besser vereinbaren zu können.

In dem Wunsch, die Arbeitszeit in den unterschiedlichen Lebensphasen flexibler zu gestalten, sind sich hingegen alle befragten Gruppen einig. Das könne über eine „zeitweise Reduzierung bzw. Erhöhung der täglichen Regelarbeitszeit“ geschehen oder über „persönlich angepasste Modelle zur Verbindung von Arbeit und Privatleben“. „Was die Bürger von ihrer Arbeit wollen, ist höchst individuell. Wir brauchen einen neuen Flexibilitätskompromiss in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft, der neue Sicherheiten mit mehr Flexibilität für Betriebe und Beschäftigte zusammenbringt. Dabei will ich mittelfristig eine lebensphasenorientierte Wahlarbeitszeit schaffen und die Qualifizierung der Beschäftigten massiv ausbauen“, kündigte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles bei der Halbzeitkonferenz an. Den Dialogprozess Arbeiten 4.0 hat das BMAS im April des vergangenen Jahres mit der Vorlage des Grünbuchs Arbeiten 4.0 gestartet. Die Ergebnisse werden bis Ende dieses Jahres in ein Weißbuch einfließen, in dem die Ministerin die Gestaltungsoptionen für die Arbeitswelt 4.0 darlegen will.

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Forderungen der Gesamtmetall

Das Thema flexible Arbeitszeiten nimmt auch das Positionspapier der Gesamtmetall in den Fokus, mit dem sich der Arbeitgeberverband an dem Dialogprozess des Bundesarbeitsministeriums beteiligt. Dabei hält die Gesamtmetall Nahles‘ Forderung nach einem neuen Flexibilitätskompromiss für „sinnvoll und notwendig“. Der Verband weist aber auch darauf hin, dass dieser nicht einseitig über gesetzliche oder tarifliche Ansprüche der Arbeitnehmer gestaltet werden könne und fordert, dass ein ausgewogenes Verhältnis „zwischen Zeitsouveränität und betrieblichen Belangen“ hergestellt werden müsse. So solle ein neues Arbeitszeitgesetz die Spielräume der EU-Arbeitszeitrichtlinie nutzen, zum Beispiel die Abweichungsmöglichkeit zur elfstündigen Ruhezeit durch den Tarifvertrag oder die Umstellung von der täglichen zur wöchentlichen Betrachtung der Arbeitszeit. Darüber hinaus gebe es Arbeitsbereiche wie Produktionsabteilungen, bei der eine höhere Flexibilität für Arbeitnehmer aufgrund von Zeitvorgaben nicht machbar sei. Auch gebe es Abteilungen, in der Präsenzarbeit weiterhin notwendig und die freie Wahl des Arbeitsplatzes nicht möglich sei.

Generell kritisiert der Arbeitgeberverband, dass der Fokus des Bundesarbeitsministeriums bei dem Dialogprozess zur Arbeit 4.0 „allein auf der Arbeitnehmerseite“ liege. Betriebliche Belange sowie die Grenzen des für Unternehmen Leistbaren spielten in den Leitfragen des Grünbuchs weitestgehend keine Rolle. Die Gesamtmetall regt an, bei der Erarbeitung des Weißbuches den Arbeitnehmerinteressen die betrieblichen Belange spiegelbildlich gegenüberzustellen. Dabei gelte es, „insbesondere die zweifellos gegebenen gemeinsamen Interessen von Arbeitnehmern und Unternehmen“ herauszustellen, heißt es in dem Zehn-Punkte-Papier des Verbandes. Gemeinsamkeiten mit dem Antrag „Industrie 4.0 und Smart Services – Wirtschafts-, arbeits-, bildungs- und forschungspolitische Maßnahmen für die Digitalisierung und intelligente Vernetzung von Produktions- und Wertschöpfungsketten“, den die Regierungsfraktionen im November in den Deutschen Bundestag eingebracht hatten, sind hingegen bereits vorhanden. So wird in beiden Dokumenten die Notwendigkeit thematisiert, bestehende Ausbildungsberufe weiterzuentwickeln und IT-Kompetenzen auf allen Stufen des Bildungssystems zu vermitteln.

Studie zu Zukunftsszenarien

Neben dem BMAS beschäftigen sich auch die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung neue Verantwortung in ihrer gemeinsamen Studie „Auf dem Weg zum Arbeitsmarkt 4.0“ mit den möglichen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die Beschäftigung in Deutschland bis zum Jahr 2030. Die Autoren der Studie legen sechs Szenarien dar, wie sich das Land hinsichtlich der Schlüsselfaktoren digitale Infrastruktur, neue Arbeitsverhältnisse, Digitalisierung und Wettbewerbsfähigkeit, Adaptionsfähigkeit des Staates und Polarisierung des Arbeitsmarktes entwickeln könnte: von einer „Ingenieursnation mit Herzchen“, bei der das gesamte Bundesgebiet vollständig mit Glasfaser ausgestattet ist und ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wurde, bis hin zum Szenario des „digitalen Scheiterns“, bei dem Deutschland ein schlecht vernetztes „digitales Entwicklungsland“ ist, die internationale Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat und der Arbeitsmarkt in allen Segmenten schlecht entwickelt ist.

Auf Grundlage der sechs Szenarien arbeitet die Studie strategische Handlungsfelder für die Politik heraus, bei denen es Interessenkollisionen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gibt. So gehen vier der sechs Szenarien davon aus, dass es zu einer erheblichen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes kommen wird. Da Unternehmen sich häufig nur noch projektbezogen an Arbeitskräfte, häufig Selbstständige, binden werden, nehmen Beschäftigungsverhältnisse mit unbestimmter Dauer ab. Dies werfe die Frage auf, „ob auch die Arbeitnehmerseite von den neuen Möglichkeiten moderner Arbeitsorganisation profitieren wird“, so die Studie. In fünf Szenarien wird darüber hinaus von einer sinkenden Nachfrage nach Arbeitskraft ausgegangen. „Hier muss die Politik frühzeitig handeln, um den sozialen Frieden in Deutschland nicht zu gefährden“, fordern die Autoren der Studie.

Sie weisen darüber hinaus darauf hin, dass die Verantwortung für die Weiterbildung in dem hochdynamischen Arbeitsmarkt weitgehend bei den Arbeitnehmern liege und fordern die Politik auf, „im Jahr 2030 staatliche Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten“. Der vermehrte Bedarf an Aus- und Weiterbildung ist im BMAS bekannt. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hatte bereits zu Beginn des Dialogprozesses Arbeiten 4.0 die Einrichtung einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung vorgeschlagen. Die SPD-Bundestagsfraktion will außerdem die beitragsfinanzierte, die betriebliche, die tarifliche und die öffentliche Bildung so organisieren, „dass sie untereinander anschlussfähig und besser verzahnt sind als heute“, wie es in ihrem im Februar veröffentlichten Positionspapier „Arbeiten 4.0 – Arbeits- und Sozialrecht an die Erfordernisse einer digitalisierten Arbeitswelt anpassen“ heißt. Weiterbildungsmaßnahmen sollen demnach zukünftig „entsprechend dem jeweils überwiegenden Bildungsinteresse“ über Sozialversicherungsbeiträge, von den Unternehmen, den Tarifpartnern (z.B. Branchenfonds), über Steuern oder mit Beiträgen der Bildungsteilnehmer finanziert werden.

Der vorstehende Artikel erscheint im Rahmen einer Kooperation mit dem Tagesspiegel Politikmonitoring auf UdL Digital. Nadine Brockmann ist als Analystin für das Themenfeld Netzpolitik verantwortlich.

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