Digitale Selbstbestimmung: Braucht die EU-Grundrechtecharta ein Update?

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Veröffentlicht am 13.04.2021

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Wie aktuell sind eigentlich noch die Grundrechte der Europäischen Union, die zu einer Zeit gedacht und verfasst wurden, als das Internet noch in seinen Kinderschuhen steckte? Der Autor und Jurist Ferdinand von Schirach will den Grundrechten sechs neue Artikel beisteuern. Dabei geht es um Globalisierung, Umwelt und digitale Selbstbestimmung.

„Jeder Mensch“, so lautet der Titel des 32-Seitigen Buches von Ferdinand von Schirach, das heute erscheint und die Diskussion um zeitgemäße Grundrechte in Europa neu aufwirft. Denn wie aktuell sind die 54 Artikel der Grundrechtscharta noch, die Anfang der 2000er Jahre von der EU vorgestellt und 2009 verabschiedet wurden? Geht es nach von Schirach und Expert:innen, mit denen er sechs neue Artikel verfasst hat, besteht großer Handlungsbedarf.

Natürliche und digitale Umwelt

So soll Artikel 1 jedem Menschen das Recht gewährleisten, „in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben“, was gerade im Kontext der ständig wachsenden Gefahren durch den Klimawandel hervorsticht. In der aktuell gültigen Charta ist von einem „hohen Umweltschutzniveau“ und „der Verbesserung der Umweltqualität“ die Rede.

Mit dem zweiten Recht, der digitalen Selbstbestimmung, will von Schirach der Ausforschung oder Manipulation von Menschen ein Ende setzen. Zwar formuliert bereits die Grundrechtscharta einen individuellen Schutz personenbezogener Daten, den von Schirach jedoch um den Punkt der Manipulation ergänzt. Neben Datenschutz wird damit auch die eigentliche Nutzung der Daten durch Unternehmen, zum Beispiel auf Grundlage von erstellten Persönlichkeitsprofilen, mitgedacht.

Algorithmen, so will es Artikel 3, müssen transparent, überprüfbar und fair sein. Inwiefern algorithmische Entscheidungssysteme diskriminierend wirken können, haben erst kürzlich Wissenschaftler:innen des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag in einer Studie aufgezeigt. Dadurch, dass „wesentliche Entscheidungen“ von einem Menschen getroffen werden sollen, greift Artikel 3 zudem die Frage der Vollautomatisierung von Abwägungsprozessen auf, wie sie unter anderem in der autonomen Kriegsführung diskutiert werden.

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Foto: Pixabay User torstensimon | CC0 1.0 | Ausschnitt bearbeitet

Desinformation und Lieferkettengesetz

Mit dem vierten Artikel wendet sich von Schirach dem Thema Desinformation zu und formuliert umgekehrt, dass jeder Mensch das Recht hat, „dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ 30.000 Lügen – für so viele machten Faktenchecker der Washington Post Donald Trump während seiner Präsidentschaft verantwortlich. Auf dem Spiel steht dabei nicht nur der Vertrauensverlust in die Politik, sondern auch eine Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Im Kontext des Lieferkettengesetzes erscheint dabei Artikel 5, wonach ausschließlich Waren und Dienstleistungen angeboten werden sollten, „die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden“, was sich demnach auch auf das Leben von Menschen außerhalb der EU auswirken könnte.
Um diese Rechte vor Verletzungen zu schützen, soll der letzte, sechste Artikel eine Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten für den Fall gewährleisten, dass zuvor genannte Rechte systematisch verletzt wurden.

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Ein neuer Rahmen

Ziel ist ein Verfassungskonvent, um die Grundrechtscharta zu erweitern, wozu bereits fleißig Unterschriften von europäischen Bürger:innen gesammelt werden. Nach nur wenigen Tagen unterzeichneten bereits über 73.000 Menschen die Petition „Jeder Mensch: Für neue Grundrechte in Europa“, die von der Stiftung Jeder Mensch e.V. organisiert wird.

„Die Idee ist nicht, irgendetwas kaputt zu machen oder zu sagen, irgendetwas stimmt nicht mehr, sondern den Rahmen, in dem wir leben, zu erweitern, wie von Schirach im ZDF-Morgenmagazin mitteilte.

Wie geht’s weiter?

Wie und vom wem die Initiative aufgegriffen wird und inwieweit es tatsächlich zum angestrebten Konvent kommen kann, wird sich zeigen. Unterstützung erfährt die Idee jedenfalls bereits von Personen wie Sascha Lobo und Jan Böhmermann. Auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley (SPD), äußerte sich bereits interessiert. „Es ist nicht etwas grundsätzlich Neues, aber es bringt diese Grundrechte up to date“, sagte sie in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk.

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