Künstliche Intelligenz: Technik-Prognosen mit der heutigen Realität konfrontiert

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Veröffentlicht am 27.03.2018

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Die Diskussion um künstliche Intelligenz (KI) wird immer intensiver geführt. Deshalb ist es Zeit, den aktuellen Stand der Entwicklung zu betrachten und die vielen verschiedenen Prognosen mit der Realität zu konfrontieren. Um einmal genau zu erkennen, was heute wirklich technisch möglich ist. Die MIT Technology Review tat dies vor einiger Zeit mit einem interessanten Essay von Rodney Brooks, das wir heute im Blog des Telefónica BASECAMP unter die Lupe nehmen. Es hält einige überraschende Erkenntnisse bereit.

Der ehemalige Direktor des Forschungslabors für Computerwissenschaft und künstliche Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie Gründer der Firmen Rethink Robotics und iRobot hat dem Thema sein Leben gewidmet. In seinem Artikel zeigt er auf, wie falsche Extrapolationen, begrenzte Vorstellungskraft und andere häufige Fehler“ uns davon abhalten „produktiver über die Zukunft nachzudenken“. Denn auch beim Diskutieren über künstliche Intelligenz würden dieselben Denkfehler wiederholt, die uns seit Jahrzehnten in der Debatte über den technischen Fortschritt begleiten.

Kurz- und Langfristig: Überschätzen und Unterschätzen

Wir neigen dazu, die kurzfristigen Effekte einer Technik zu überschätzen und ihre langfristigen Auswirkungen zu unterschätzen“, sagte schon vor vielen Jahren Roy Charles Amara. Die Worte des Futuristen und Mitgründers des Institute for the Future in Palo Alto gingen als Gesetz von Amara in die Geschichte ein. Ein Beispiel ist das Satellitennavigationssystem GPS, das Ende der Siebzigerjahre entwickelt wurde, um US-Raketen besser ins Ziel zu bringen. Ein paar Jahre später wurde das Programm beinahe eingestellt, doch seit den Neunzigerjahren gibt es GPS auch für Autos. Und heute haben jedes Smartphone und selbst Armbanduhren wie die Apple Watch einen Empfänger eingebaut.

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Foto: CC0 1.0, Pixabay / Geralt / Ausschnitt bearbeitet

Beim Aufkommen des Online-Shoppings war es ähnlich: Zuerst übertriebene Hoffnung und ein Feuerwerk an den Börsen. Dann platzte die Blase der New Economy und die Anbieter starben wie die Fliegen. Doch heute ist der Amazon-Gründer Jeff Bezos der reichste Mann der Welt. „So lief es auch mit anderen Techniken in den vergangenen 30 Jahren“, sagt Rodney Brooks „Zuerst gibt es große Vorschusslorbeeren, dann kommt die Enttäuschung und danach wächst langsam das Vertrauen und wir sehen Ergebnisse, die unsere ursprünglichen Erwartungen übertreffen.“ Schon in den sechziger und achtziger Jahren sei die künstliche Intelligenz immer wieder überschätzt worden und momentan sei es kaum anders. Doch ihre Aussichten auf lange Sicht würden wahrscheinlich unterschätzt. Die Frage sei nur: Für wie lang? Die nächsten Beispiele sollen erklären, warum die Zeit oft stark unterschätzt wird.

Voodoo-Tech: Fortschrittliche Technik erscheint magisch

Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden“, ist das wichtigste der drei Entwicklungsgesetze, die der Erfinder und Science-Fiction-Schriftsteller Arthur C. Clarke vor fünfzig Jahren aufstellte. Es wird seitdem immer wieder zitiert und war wohl auch dafür verantwortlich, das Steve Jobs das erste iPhone bei seiner legendären Produktvorstellung als „magisch“ bezeichnete, weil es ohne Tastatur oder Stift auskam und sich als erstes Smartphone der Welt durch Multitouch-Gesten bedienen ließ. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Und wenn man heute das iPhone einem der klügsten Köpfe der Menschheit wie Isaac Newton in die Hand drücken könnte, dann würde er es auf jeden Fall für Magie halten. Denn er könnte nur die großartigen Funktionen bewundern und gar nicht verstehen, warum man diesen Apparat ständig aufladen muss. Weil er zu seiner Lebenszeit weder Strom noch Batterien kannte.

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Foto: Shutterstock / Mopic

Das ist ein Problem, das wir alle haben, wenn wir uns zukünftige Technik vorstellen“, erkärt Rodney Brooks. „Wenn sie zu weit von der Technik entfernt ist, die wir heute kennen und nutzen, dann verstehen wir auch nicht ihre Beschränkungen.“ Die Technik erscheine dann als magisch und alles, was darüber behauptet wird, lässt sich nicht widerlegen. Auf solche Argumente trifft der Experte oft in Diskussionen über künstliche Intelligenz, von der immer wieder behauptet wird, dass sie eines Tages ein Bewusstsein entwickelt und klüger als der Mensch wird. Doch bisher weist nichts darauf hin. Die Entwickler schlagen sich seit 50 Jahren mit denselben Problemen herum, wenn sie den Maschinen das selbstständige Denken und einen gesunden Menschenverstand beibringen wollen. Die künstliche Intelligenz ist immer noch ziemlich beschränkt. Also Vorsicht vor Argumentationen, in denen sie allmächtig und magisch erscheint!

Leistung vs. Kompetenz: Hunde sind klüger

Den Terminator wird es noch jahrzehntelang nicht geben“, sagte der Zukunftsforscher Maurice Conti im Dezember im Telefónica BASECAMP. Die Filmfigur habe eine „generelle künstliche Intelligenz“ gehabt, erklärte der Chief Innovation Officer der Moonshot-Fabrik Telefónica Alpha, während die elektronischen Superhirne aus der Realität immer nur ganz bestimmte Aufgaben erfüllen könnten. Selbst ein Hund sei klüger. Er versteht nämlich beispielsweise, was ein Frisbee ist und wie weit Mensch sie werfen können. Computer erkennen dagegen blitzschnell Millionen von Bildern, auf denen Menschen damit im Park spielen. Doch sie haben keine Ahnung, was dabei passiert: was ein Mensch ist, dass Parks im Freien sind oder Hunde gern dort spielen.

Das macht diese Form der künstlichen Intelligenz nicht nutzlos, aber es schränkt ihren Nutzen extrem ein. Internet-Suchmaschinen können diese Fähigkeit gut gebrauchen, doch die meisten Menschen würden das gleich wieder überbewerten, warnt Rodney Brooks„Die Leute hören, dass irgendein Roboter oder KI-System eine Aufgabe erfüllt hat, und dann vergleichen sie es mit der Kompetenz, die ein Mensch für diese Leistung haben müsste.“ Sie generalisierten gleich, obwohl die heutigen Maschinen noch extrem beschränkt in ihren Fähigkeiten sind. Generalisierungen wie beim Menschen lassen sich nicht anwenden.

Wundertüten-Wörter: Lernen ist nicht gleich lernen

Es gibt Wörter, die eigentlich einfach sind, doch sie haben unzählige Bedeutungen und führen immer wieder zu Missverständnissen. Ein Beispiel ist: Lernen. Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob man lernt, mit Stäbchen zu essen oder ein Lied auf der Gitarre zu spielen. Und Programmieren zu lernen ist wieder etwas ganz anderes. Das Wort ist wie eine Wundertüte, die jedes Mal einen anderen Inhalt hat. Doch wenn die Leute hören, dass maschinelles Lernen große Fortschritte macht, dann stellen sie sich das genauso vor wie beim Menschen.

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Maschinelles Lernen ist jedoch eine sehr wackelige Angelegenheit“, erklärt Rodney Brooks. „Es erfordert viel Vorbereitung durch menschliche Forscher oder Ingenieure, spezielle Kodierungen und Trainingsdatensätze sowie eine maßgefertigte Lernstruktur für jeden neuen Problembereich.“ Es sei überhaupt nicht vergleichbar mit dem schwammartigen Aufsaugen von Wissen, wie es bei Menschen geschieht, die auch in neuen Bereichen schnell Fortschritte erzielen, ohne dass ihr Gehirn dafür umgebaut werden muss. Computer haben zwar längst die besten Menschen im Schach oder Go und Poker geschlagen. Doch sie wären komplett hilflos, wenn man auch nur eine Spielregel ändern würde. Da hilft auch kein Maschinenlernen.

KI2: Wider den Exponentialismus

Viele Leute leiden an schwerem „Exponentialismus“, witzelt  der KI-Experte. Fast jeder kennt das Gesetz von Moore, dass Computerchips ihre Kapazität an Transistoren jedes Jahr verdoppeln und dadurch immer schneller werden. Das hat 50 Jahre lang gestimmt, auch wenn die Zeiträume zuletzt immer länger wurden. Doch inzwischen sind die Komponenten auf den Silizium-Chips so klein, dass weitere Miniaturisierungen kaum möglich sind.

Das exponentielle Wachstum hat sein Ende erreicht und das lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten: Der Speicher des iPod hatte sich in den ersten fünf Jahren seiner Geschichte jedes Jahr verdoppelt, führt Rodney Brooks an, doch die heutigen iPhones haben höchsten 256 Gigabyte Speicher. Das ist weniger als doppelt so viel, wie der größte iPod vor zehn Jahren hatte. Die Entwicklungskurve hat sich abgeflacht.

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Foto: CC0 1.0, Pixabay / TeroVesalainen / Ausschnitt bearbeitet

Bei der künstlichen Intelligenz verläuft die Entwicklung ähnlich. Zwar gab es in jüngster Zeit extreme Leistungssprünge, doch das bedeute nicht, dass jetzt regelmäßig exponentielle Fortschritte kommen. Die aktuellen Durchbrüche durch Deep Learning seien ein besonderes Ereignis, an dem 30 Jahre lang gearbeitet wurde, sagt Brooks. Solche Überraschungen könne es zwar immer wieder geben, doch wir haben kein Gesetz, auf das wir uns verlassen können.

Hollywood: Traumfabrik muss kreativer werden

Unser Bild von der Zukunft wird viel von Filmen bestimmt. Aber Hollywood ist gar nicht so kreativ, wie wir immer glauben. Es nimmt einfach die Realität und schreibt sie ein bisschen weiter. Deshalb bekam Marty McFly seine Kündigung bei Zurück in die Zukunft noch per Fax und Neo nahm bei Matrix ein Nokia 7110, um seine Freunde zu warnen. Der Film spielt angeblich im Jahr 2199 und das Smartphone wäre dann 200 Jahre alt.

Und wenn heute einige Leute davor warnen, dass die KI außer Kontrolle geraten könnte, dann fehlt ihnen vielleicht nur Phantasie. Sie übersehen, dass sich die Welt extrem verändern wird, bis die Technik solche Fähigkeiten besitzt. Wir werden nicht plötzlich durch die Existenz von neuen Super-Intelligenzen überrascht, sagt Brooks. Die KI wird sich Schritt für Schritt entwickeln und wir haben Zeit, sie kennenzulernen und das Umfeld daran anzupassen. Dabei dürfte es auch Herausforderungen geben, aber sie treten nicht so plötzlich und unerwartet auf, wie viele Leute denken.

KI-Massenmarkt: Wenn’s mal länger dauert…

Neue Software lässt sich schnell einführen. Und Firmen wie Google oder Facebook ändern manchmal fast stündlich ihre Algorithmen. Das ist die Geschwindigkeit, die sich in den Köpfen der Tech-Elite festgesetzt hat, denn die Kosten für den Einsatz von neuem Code sind extrem gering. Mit neuer Hardware ist das aber anders: Die meisten Autos, die heute verkauft werden, sind nicht autonom und fahren wahrscheinlich noch 2040. Und die US-Luftwaffe fliegt weiter mit der B-52H, die vor 57 Jahren eingeführt wurde. Das letzte Exemplar wurde 1962 gebaut, doch diese Langstreckenbomber werden immer wieder repariert. Angeblich sollen sie bis mindestens 2040 im Einsatz bleiben und vielleicht sogar länger.

Dann sitzen die Piloten in Maschinen, die 100 Jahre alt sind. Das ist alles eine Frage des Geldes. Und warum soll man etwas verändern, das gut funktioniert? Deshalb dürfte es auch noch länger dauern, bis künstliche Intelligenz wirklich überall zum Einsatz kommt: im Büro, in der Lieferkette, in der Fabrik oder bei der Gestaltung von Produkten. Auch dafür gibt es kein Gesetz. „Fast alle Innovationen in Robotik und KI werden für eine weite Verbreitung viel länger brauchen, als die Leute denken, die in diesen Bereichen arbeiten“, sagt Rodney Brooks. Ob er damit Recht hat? Wir werden es sehen.

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