#EU2020DE: Interview mit Alexandra Geese

Pressefoto: Alexandra Geese | Grafiken: CC0 1.0, Pixabay User loginueve_ilustra, ADMC u. GregMontani
Pressefoto: Alexandra Geese | Grafiken: CC0 1.0, Pixabay User loginueve_ilustra, ADMC u. GregMontani
Veröffentlicht am 17.09.2020

Pressefoto: Alexandra Geese | Grafiken: CC0 1.0, Pixabay User loginueve_ilustra, ADMC u. GregMontani
Alexandra Geese ist seit vergangenem Jahr Abgeordnete der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament. Sie streitet für ein starkes Wettbewerbsrecht und eine wertegeleitete digitale Transformation.

Seit Juli hat die Bundesregierung die rotierende Ratspräsidentschaft der Europäischen Union inne. Zum ersten Dezember 2019 trat die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen ihr Amt an. Sowohl das Arbeitsprogramm der Kommission als auch das Programm der deutschen Präsidentschaft – unter dem Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ – legen einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung. Daran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert. Durch die Förderung von Innovationen wollen Mitgliedstaaten und Kommission die EU aus der Wirtschaftskrise führen und fit für den globalen Wettbewerb machen.

Zu Beginn des Jahres hat die Kommission ein Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz und eine Europäische Datenstrategie vorgelegt. Die darin vorgesehenen Maßnahmen werden aktuell ausgearbeitet. Gegen Ende des Jahres will die Kommission außerdem ihren Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie zur Netz- und Informationssicherheit (NIS-Richtlinie) sowie ihre Pläne für einen Rechtsakt über digitale Dienste (Digital Services Act) beschließen. Ein weiterer Schwerpunkt der europäischen Politik liegt auf einer nachhaltigen Gestaltung der Digitalisierung.

Pressefoto: Alexandra Geese

Vor diesem Hintergrund haben wir mit deutschen Europaparlamentarier*innen darüber gesprochen, welche Punkte ihnen in Bezug auf die europäische Digitalpolitik am wichtigsten sind und wo sie in Bezug auf die Pläne der Kommission Nachholbedarf sehen. Die Interviews veröffentlichen wir über die kommenden Wochen auf Basecamp.digital. Unsere erste Interviewpartnerin ist Alexandra Geese. Sie ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und Teil der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz (Die Grünen/EFA) im Europäischen Parlament.

Während der Corona-Pandemie ist auch die Cybersicherheit wieder stärker in den Fokus gerückt. Welche Schwerpunkte sollten bei der anstehenden Überarbeitung der Richtlinie zur Netz- und Informationssicherheit gelegt werden? 

Cybersicherheit ist wichtiger denn je. Unser Leben hängt in immer größerem Maße von funktionierenden Digitaltechnologien ab. Die Krankenhäuser, unsere Stromversorgung und Kommunikation wären ohne sie nicht denkbar. Vor allem für die unverzichtbare Infrastruktur muss deren Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität und Vertraulichkeit gesichert sein. Vorfälle wie beim Bundestag, der Deutschen Bahn oder zuletzt beim Sportuhrenhersteller Garmin haben gezeigt, wie angreifbar wir sind. Wir brauchen deshalb vor allem Open Source-Anwendungen, damit alle Produkte immer überprüfbar und verbesserbar sind. Zentral wird außerdem sein, dass wir die Innovationsfähigkeit und die Anbietervielfalt sichern. Auch Mindeststandards für IoT-Anwendungen sind unverzichtbar, damit nicht der Staubsauger im Smart Home zum Einfallstor für Angriffe wird.

Ein weiteres Legislativvorhaben der Kommission ist der Digital Services Act, der die veraltete eCommerce-Richtlinie ersetzen soll, die im Jahr 2000 entstanden ist. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Elemente, um die globale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Internetunternehmen zu fördern?

Die europäische Kommission überarbeitet mit Hochdruck das Wettbewerbsrecht, weil die großen Digitalkonzerne ihre Datenmacht missbrauchen. Facebook beispielsweise kauft aufstrebende Start-Ups einfach auf, um Wettbewerb zu unterbinden. Auch in der Reisebranche und vielen anderen wird der Markt verzerrt. Dabei spielt die Kontrolle von Daten eine entscheidende Rolle. Wir wollen das Wettbewerbsrecht wieder zu einem scharfen Schwert machen, das solche Praktiken unterbindet. Ich begrüße außerdem die Bestrebungen, eine europäische Cloud wie GaiaX ins Leben zu rufen. Parallel dazu benötigen wir mehr öffentliche Investitionen in Forschung und insbesondere Unterstützung der Unternehmen auf dem Weg zur Marktreife ihrer Produkte. Dabei müssen wir darauf achten, dass geförderte Startups nicht von den großen Plattformen aufgekauft werden. Es fehlt uns weiterhin an einem glaubwürdigen Finanzierungsmodell beim Scale-up.

Wir wollen Europa zu einem attraktiven Arbeits- und Lebensort für Expert*innen machen, gerade für künstliche Intelligenz, wo wir in Zukunft viele Fachkräfte brauchen. Dazu müssen Unternehmen ihre Karriereangebote überdenken: Gefragt sind beispielsweise „Dual career“-Wege, also Arbeitsplätze, die für beide Partner kompatibel mit Kindern und Familie sind. Ganz wichtig ist natürlich auch eine globale oder europäische Reform der Körperschaftssteuer. Die von der EU anberaumte Digitalsteuer, die Deutschland leider im letzten Jahr noch verhindert hat, muss dringend wieder für Gerechtigkeit sorgen. Es kann nicht sein, dass große Plattformen die Steuerquote durch Steueroptimierungsmodelle auf 6 Prozent senken können.

Engagiert sich die EU aus ihrer Sicht ausreichend bei Forschung und Innovation? Können wir bei den Themen KI und Quantencomputing international mithalten?

Momentan können wir rein quantitativ weder bei den öffentlichen noch den privaten Investitionen mithalten. Die öffentliche Hand sollte sich in Zeiten des Technologie-Umbruchs stärker engagieren. In ihrem Buch „The Entrepreneurial State“ hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato sehr überzeugend dargelegt, dass auch die Unternehmen im Silicon Valley – eigentlich Vorbild der privat finanzierten Innovation – ohne die von der Regierung finanzierten Erfindungen wie das Internet nicht denkbar wären. Europa hat große Stärken gerade im Bereich der industriellen Fertigung. Darauf müssen wir bauen und zum führenden Kontinent von wertegeleiteter und nachhaltiger KI werden.

Bei künstlicher Intelligenz treibt die chinesische Regierung die Entwicklung maßgeblich voran, leider aber mit dem Ziel einer engmaschigeren Kontrolle und Manipulation der Bevölkerung. Dem müssen wir dringend europäische Technologie und Werte entgegensetzen. Ich habe deshalb kein Verständnis dafür, dass die Mitgliedsstaaten im Rat die Mittel für Horizon 2020 und für Digital Europe im Vergleich zum Kommissionsansatz und der Forderung des Parlaments gekürzt haben. Europa hat so viel Potenzial mit guten Unternehmen und starken Expert*innen.

Kommission und Parlament wollen gemeinsame Ladegeräte für Mobiltelefone und ähnliche Geräte. Welche anderen Bausteine braucht es für eine nachhaltige Digitalisierung?

Die Digitalisierung kann zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz beitragen, aber durch den immensen Strom- und Ressourcenverbrauch auch das Problem verschärfen. Die EU sollte vor allem auf Forschung und Produkte setzen, die durch die Einsparung von Ressourcen zur Kreislaufwirtschaft beitragen oder durch Smart Grids die Energieversorgung über erneuerbare Energiequellen optimieren. Künstliche Intelligenz in der industriellen Fertigung ermöglicht eine ressourcenarme Herstellung von Produkten und vorausschauende Instandhaltung.

Foto: CC0 1.0, Pixabay User PublicDomainPictures | Ausschnitt angepasst

Wir brauchen außerdem eine Reparaturpflicht und mehr Open-Source-Produkte, damit digitale Geräte länger genutzt werden können. Es kann nicht sein, dass der Kauf eines neuen Produktes kostengünstiger ist als die Reparatur des alten. Wertvolle Ressourcen müssen dem Produktionskreislauf vollständig wieder zugeführt werden. Auch datensparsames, effizientes Programmieren von Software kann einen Beitrag leisten. Rechencenter sollten an Standorten stehen, an denen sie mit erneuerbarer Energie betrieben werden können. Europa braucht dringend eine Gesamtstrategie, wie die Digitalisierung zum Erreichen der Klimaschutzziele des Pariser Abkommens beitragen kann.

Die Kommission hat in ihrem Arbeitsprogramm einen Schwerpunkt auf die Digitalisierung gelegt, das Parlament war in der Vergangenheit insbesondere bei der DSGVO die führende Kraft. Wer wird in dieser Legislaturperiode die Triebfeder in der Digitalpolitik sein – die Kommission oder das Parlament?

Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit von Kommission und Parlament. Die Vizepräsidentin und zuständige Kommissarin Margrethe Vestager kennt den digitalen Markt sehr gut und Kommissar Thierry Breton wird sich für eine stärkere Rolle europäischer Unternehmen einsetzen. Im Parlament setzen die Abgeordneten einen Fokus auf Grundrechte und Nichtdiskriminierung und fordern mehr Transparenz für die digitalen Plattformen. In der Vergangenheit haben Kommission und Parlament gemeinsam Entwicklungen vorangetrieben, während die Regierungen der Mitgliedsstaaten oft auf der Bremse standen. Leider hat der Rat auch nun wieder die Mittel für Forschung, Innovation und Digitales im Wiederaufbaufonds gekürzt, ebenso die Mittel im Demokratieförderprogramm „Rechte und Werte“ und er hat die E-Privacy-Verordnung gestoppt. Europa hat mit dem Digital Services Act und der neuen Gesetzgebung zu künstlicher Intelligenz die Chance, ähnlich wie mit der DSGVO weltweite Standards zu setzen. Diese Chance müssen wir jetzt nutzen.

Die EU ist aufgrund der Corona-Pandemie im Krisenmodus. Werden die EU und ihre Institutionen gestärkt daraus hervorgehen oder zerstrittener als zuvor? Welche Rolle wird dabei das Europaparlament spielen?

Zu Beginn der Coronakrise haben sich einige europäische Mitgliedsstaaten, darunter leider auch Deutschland, egoistisch verhalten. Das darf nie wieder vorkommen. Mit der auch von Deutschland maßgeblich vorangetriebenen Einigung über den Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ haben wir eine neue Chance erhalten. Die Chance auf mehr Zusammenhalt und eine ökologische Transformation, die unsere Wirtschaft klimafest macht und damit auch unseren Kindern und Enkelkindern ein gutes Leben ermöglicht. Die Kommission hat dies erkannt, richtet jedoch ihr Handeln noch nicht konsequent daran aus. Was wir jetzt brauchen, sind stringente Vorgaben für die Wiederaufbaupläne der einzelnen Mitgliedsstaaten, damit diese umfassenden Investitionen zu einer modernen Wirtschaft beitragen, die das Klima schützt und für soziale Gerechtigkeit sorgt. Aufgabe des Parlaments in den nächsten Monaten wird es sein, auf genau diese Vorgaben zu pochen. Europäische Mittel müssen für europäische Ziele ausgegeben werden.

Für eine gerechte Digitalisierung

Alexandra Geese lebt in Bonn und hat bis zu ihrer Wahl im vergangenen Jahr als Dolmetscherin für ihre Abgeordnetenkolleg*innen gearbeitet. Jetzt ist sie Mitglied des Haushalts- und des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. In der Digitalpolitik streitet Geese für Gerechtigkeit und Partizipation. Auf ihrer Homepage schreibt sie: „Durch digitale Technologien können wir besser miteinander kommunizieren, reisen, arbeiten, lernen, studieren und Kontakte knüpfen – über Ländergrenzen hinweg.“ Gleichzeitig mahnt sie, „wurden digitale Technologien zu einer Konzentration von Macht und Reichtum in wenigen Händen genutzt“. Sie will daher den Digital Services Act nutzen, um das europäische Wettbewerbsrecht zu stärken.

Pressefoto: Alexandra Geese

Geese ist davon überzeugt, dass die Europäische Union sowohl mit dem Digital Services Act als auch mit der geplanten Regulierung Künstlicher Intelligenz die Chance hat, „weltweite Standards zu setzen“. Im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz initiierte sie eine Resolution zu Künstlicher Intelligenz. Ihr Ziel: Verbraucher*innen besser vor Fehlurteilen durch automatisierte Systeme schützen. Gerade im Bereich der industriellen Fertigung ließe sich mit einer „wertegeleiteten und nachhaltigen KI die Wirtschaft stärken und das Klima schützen“, betont Geese.

Schlagworte

Empfehlung der Redaktion